# taz.de -- Verdrängung aus dem Stadtzentrum: Abschied von einer grünen Utopie | |
> Ein Kollektiv aus Tiny House-Bauern macht den Mirbachplatz seit über zwei | |
> Jahren zu einem kreativen Ort. Nun muss es teuren Wohnungen weichen. | |
Bild: Die Tiny House-Bauer: M. Warkentin, K. Maurath, R. Alfantazi, K. Hohaus, … | |
Der Mirbachplatz in Weißensee ist nicht gerade ein lauschiger Ort, nur | |
2.000 Quadratmeter groß, eher eine Verkehrsinsel, auf die fünf Straßen | |
zulaufen. Wer ihn bis Januar meist nur passiert hat, der hat ihn vielleicht | |
nicht einmal richtig wahrgenommen. Aber plötzlich hat sich der Platz | |
verändert. Fast alle Bäume, die ihn bis dahin zu einer Art geheimen, grünen | |
Oase machten, sind gefällt. Und nun steht nicht nur die Ruine des Turms der | |
1945 zerstörten Bethanienkirche ziemlich nackt da. | |
Auch die fünf [1][Tiny Houses], Englisch für Miniaturhäuser, die den Platz | |
seit Herbst 2018 beleben, wirken sehr verloren. Was soll hier geschehen? | |
Bereits vor 20 Jahren hat der Berliner Architekt Bernd Bötzel nach eigener | |
Aussage die ersten Ideen zur Erhaltung des Bethanienturms entwickelt. | |
„Tower Visions“ heißt das Vorhaben, das Bötzel seitdem hier umsetzen will: | |
Auf dem Grundriss des ehemaligen Kirchenschiffes soll ein moderner Anbau | |
für 14 Wohnungen im „gehobenen Segment“ entstehen, wie es so schön heißt, | |
drei weitere sogar im Turm selbst. Die Bilder der Wohnungen, die auf seiner | |
[2][Website] anzusehen sind, sehen irre bis abgehoben aus: Graue Sofas und | |
Flügel unter Kirchengewölben. 2007 gelang es Bötzel, den Turm zu kaufen. Im | |
Mai 2020 wurde sein Bauantrag genehmigt, der die Sanierung des | |
Glockenturms, der weiterhin zweimal täglich läuten soll, berücksichtigt. | |
Seit Januar dieses Jahres, so Bötzel zur taz, sei nun ein Investor mit an | |
Bord, der noch nicht öffentlich genannt werden will. Ab dem dritten Quartal | |
2021 soll gebaut werden, die Fertigstellung ist für Mitte 2023 geplant. Die | |
Tiny Houses, denen Bötzel 2018 die Zwischennutzung kostenfrei gestattet | |
hatte, müssen im September weg. | |
## Beredte Gebäude mit starken Statements | |
An einem sonnigen, trotzdem kalten Frühlingsnachmittag sitzen die fünf | |
Erbauer*innen der Tiny Houses in ihrer vor allem aus Altbaufenstern | |
kunstvoll zusammengezimmerten Sommerküche und denken darüber nach, welche | |
Funktion der Mirbachplatz für die Nachbarschaft haben wird, wenn hier teure | |
Wohnungen entstehen. | |
In der Zeit, als sie hier waren und den Platz kurzerhand [3][„Insel | |
Weissensee“] nannten, durfte die Eisdiele gegenüber ein paar Tische und | |
Stühle aufstellen, auch blieben im Sommer oft Eltern mit Kindern auf dem | |
Nachhauseweg hängen. Manchmal haben sie die Nachbarschaft zum Tonnenfeuer | |
eingeladen. Sie haben Gemüse-Hochbeete für Urban Gardening angelegt und | |
Tauschregale für Bücher aufgestellt. | |
Der Mirbachplatz wurde ein wilder, grüner, utopischer Ort mitten in der | |
Stadt, eine Brache, wie sie in Berlin immer seltener werden. | |
Tiny Houses, wer den Begriff für diese aufs Wesentliche reduzierten, oft | |
leicht von einem zum anderen Ort umsetzbaren Behausungen von wenigen | |
Quadratmetern noch nie gehört hat: Das sind in Zeiten von Verdrängung, | |
steigender Mieten und Enteignungsdebatten beredte Gebäude mit starken | |
Statements. Sie erzählen vom mobilen, autarken Leben mitten in der Stadt, | |
vom Recht dazubleiben, auch ohne Stress mit den Vermieter*innen und all | |
den täglich zu organisierenden Gegenständen, die uns so oft den weiten | |
Blick verstellen. | |
„Wir haben das alles selbst gebaut“, sagt Max Warkentin, der Architektur | |
studiert hat und auch beruflich Minihäuser entwirft und baut. „Selbst die | |
Schrauben waren recycelt“, sagt er und grinst zufireden. | |
„Wir wussten, dass das hier nicht von Dauer ist“, sagt der Garten- und | |
Landschaftsbauer Kornelius Maurath, dem hier das größte der Tiny Houses | |
gehört. „Und trotzdem war es in letzter Zeit schwer, sich noch zu | |
motivieren, zum Beispiel diese Sommerküche zu bauen.“ Jetzt macht er sich | |
große Sorgen, denn das Haus, das er gebaut hat, ist zwar transportabel, | |
aber wirklich so groß, als hätte es zwei Stockwerke. | |
Weißensee ist noch ein recht grüner, ruhiger Bezirk, es gibt den Weißen See | |
nebst Kreuzpfuhl, Goldfischteich und Faulem See, überall viel Grün drum | |
herum. Auch macht interessante Architektur wie das vor rund 100 Jahren | |
errichtete Munizipalviertel den Kiez interessant. Man merkt bis heute, dass | |
es als ganzes kommunales Viertel mit guter Infrastruktur geplant war, neben | |
zahlreichen Wohnhäusern befinden sich dort das Primo-Levi-Gymnasium, ein | |
Stadtteilzentrum, ein Wohnheim für junge Erwachsene mit | |
Lernschwierigkeiten. | |
## Die Angst vor Verdichtung geht um | |
Andererseits gibt es in Weißensee viele Gewerberäume, die leer stehen, auch | |
laden Plätze und Straßen wie die laute Berliner Allee und der Caligariplatz | |
nicht gerade zum Chillen ein. Hinzu kommt die berechtigte Angst der | |
Kiezbewohner*innen vor zu starker Verdichtung. Das hat unter anderem | |
ein kürzlich zu Ende gegangener Dialogprozess zwischen Anwohnern und Bezirk | |
ergeben, bei dem es um die Erneuerung des künftigen Sanierungsgebiets rund | |
um die Langhansstraße ging. Der Druck von außen wächst, Familien vor allem | |
aus dem benachbarten Prenzlauer Berg ziehen hinzu, weil sie sich dort keine | |
Wohnungen mehr leisten können. | |
Weil auch der Mirbachplatz mit dem Bethanienturm zu diesem Gebiet gehört, | |
hätte der Bezirk ein Vorkaufsrecht. Bezirksbügermeister Sören Benn (Linke) | |
sagt der taz, man habe zwar das Vorkaufsrecht geprüft, aber es gebe bislang | |
keinen Bedarfsträger, der dieses Projekt finanziell stemmen könnte. „Fakt | |
ist leider: Jeder, der hier erwirbt, müsste einen hohen Preis zahlen, um | |
dafür ein Gebäude zu erhalten, das derzeit nicht mehr als eine Ruine ist.“ | |
Anders gesagt: Wer den Mirbachplatz für die Nachbarschaft erhalten will, | |
der muss auch den Erhalt des Turms finanzieren. | |
Die Stimmung unter den Tiny- House-Bewohner*innen auf dem Platz ist derzeit | |
nicht unbedingt wütend, eher gedrückt, trotz aller Nachteile, die der | |
kleine Platz mit dem hohen Verkehrsaufkommen über die zweieinhalb Jahre, | |
die sie hier sind, mit sich brachte. Man habe sich immer gut mit dem | |
bisherigen Eigentümer Bernd Bötzel verstanden, ebenso mit den meisten | |
Nachbar*innen, so die Künstlerin und Initiatorin Pia Grüter, der das | |
kleinste Haus auf dem Platz gehört, ein schickes, schwarzes Haus, das ins | |
einer Form an einen Pferdeanhänger erinnert und wirklich nur das Nötigste | |
bietet: Einen Schlafplatz, einen Arbeitsplatz, eine Miniküche und etwas | |
Stauraum. | |
„Im Augenblick schauen wir uns nach Alternativen um“, sagt sie. Bernd | |
Bötzel, so Grüter, habe sich vor etwa einem Jahr darum bemüht, ein | |
Grundstück in Neukölln zu vermitteln, daraus sei aber leider nichts | |
geworden. Laut eigener Aussage sucht er weiter nach Alternativen für die | |
Gruppe. | |
Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass sie als Gruppe zusammenbleiben | |
werden. Da ist zum Beispiel jemand wie Rabee Alfantazi, der es vor zwei | |
Jahren im Flüchtlingsheim nicht mehr ausgehalten und sich auf dem Platz | |
eine gemütliche Jurte mit überzeugendem Blick in den Sternenhimmel gebaut | |
hat: Er hat schon Aussicht auf einen anderen Ort. Einige werden wohl Berlin | |
verlassen, bei anderen stehen nun erst mal andere Projekte im Vordergrund. | |
„Unsere Zeit auf der Insel war auch ein Nährboden für neue Ideen“, sagt P… | |
Grüter. „Wir wollen nicht nur melancholisch sein.“ | |
Ach, übrigens: Wer einen Ort weiß, der kann gern eine Mail an die Bewohner | |
der Tiny Houses in Weißensee schreiben: [email protected]. | |
4 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Forscherin-zu-kleinen-Haeusern/!5653808 | |
[2] https://planufaktur.de/tower-visions/ | |
[3] https://www.facebook.com/InselWeissensee/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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Stephan von Dassel | |
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