# taz.de -- Ein Imbiss und seine Geschichte: Hochpolitisches Hühnchen | |
> Kann man ganz unbedarft in ein Fried-Chicken-Sandwich beißen? Darin | |
> steckt einiges an Historie. Eine Zeitreise bis ins 17. Jahrhundert. | |
Bild: Zum Reinbeißen: Ein Fried-Chicken-Sandwich, noch unberührt | |
Das Brötchen ist aus Brioche-Teig, die Bio-Hühnchenteile werden mit einer | |
Mehl-Gewürzmischung paniert, zweifach frittiert und mit einer Glasur aus | |
reduzierter Hühnerbrühe, Kümmel und geräucherter Paprika bestrichen. Das | |
Topping ist ein hausgemachter Coleslaw. Dazu empfohlen werden Naturweine, | |
ihre elegante Trockenheit ist ein wohltuender Kontrast zu den würzigen | |
Hähnchenteilen in dem luftig-süßlichen Brot. | |
So raffiniert ist ein Fried-Chicken-Sandwich selten aufgetreten. Verkauft | |
wird es, aktuell natürlich nur zum Mitnehmen, im „Barra“ [1][in | |
Berlin-Neukölln]. Bei Normalbetrieb wird hier anspruchsvolle Küche mit | |
überraschenden Kombinationen serviert, wie Wolfsbarsch mit Himbeere und | |
Sauerampfer. Als das Restaurant coronabedingt zumachte, musste sich | |
Chefkoch Daniel Remers etwas Praktischeres überlegen und sagte sich: „Wer | |
liebt nicht frittiertes Hühnchen?“ | |
Sein Sandwich löste einen kleinen Hype aus und half, das Barra vor der | |
Pleite zu bewahren. Der Gourmet-Blog Berlinfoodstories war begeistert, in | |
der Berliner Food-Bubble auf Instagram ist es omnipräsent; und im echten | |
Leben erstreckt sich die Schlange vorm Lokal entlang der vier | |
Nachbarhäuser. | |
Dass frittiertes Hähnchen, im Barra als raffiniertes Sandwich serviert, | |
auch in schickeren Restaurants angeboten wird, war bis vor Kurzem schwer | |
vorstellbar. Lange galt es als Fastfood speziell migrantischer Communitys: | |
[2][Neben der US-Kette „Kentucky Fried Chicken“] gibt es immer mehr | |
muslimische Halal-Schnellrestaurants, die frittiertes Geflügel anbieten. | |
Was aber im Barra im Brötchen steckt, ist Southern Fried Chicken, und seine | |
Geschichte geht weit zurück, ins 17. Jahrhundert, nach Nordamerika und | |
Afrika – und ist hochpolitisch. | |
## Alles begann in den US-Südstaaten | |
Frittiertes Hühnchen, dort einfach Fried Chicken genannt, hat in den USA | |
seinen Ursprung auf den Plantagen der Südstaaten. Die Sklav:innen aus | |
Westafrika brachten es in die neue Welt mit. Huhn war zugleich das einzige | |
Tier, das sie selbst halten durften. Die Großgrundbesitzer hatten ihre | |
Wurzeln in Europa. Sie verlangte es mehr nach Schwein und Rind. So kochten | |
die Sklav:innen Fried Chicken bei speziellen Anlässen auch für sich. | |
Nach dem Verbot der Sklaverei 1865 hielten viele befreite Sklav:innen | |
weiterhin Hühner in Haus und Hinterhof. Der sogenannte „Yardbird“ wurde | |
meist am Sonntag nach der Kirche verspeist. Und an den Bahnhöfen der | |
Südstaaten verkauften Schwarze Frauen aus großen Körben Hühnchenteile als | |
Snack, sie zählen zu den ersten afroamerikanischen Unternehmerinnen. | |
Doch obwohl Fried Chicken auch bei Weißen beliebt war, wurde es | |
instrumentalisiert, um das Stereotyp des „unzivilisierten, wilden | |
Schwarzen“ zu erschaffen und zu verstärken. Im zutiefst rassistischen Film | |
„Birth of a Nation“ aus dem Jahr 1915 wird eine fiktive Gruppe Schwarzer | |
Abgeordneter gezeigt, die während einer Parlamentssitzung nicht stillhalten | |
können, ihre Schuhe ausziehen und obszön an Hühnerkeulen nagen. | |
Während der „Great Migration“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts | |
zogen dann große Teile der afroamerikanischen Bevölkerung [3][aus dem | |
ländlichen Süden] in den industriellen Norden der USA. Schwarze | |
Köch:innen eröffneten Restaurants für die segregierte Schwarze Community, | |
und so verbreitete sich Fried Chicken auch an der Ostküste und im Mittleren | |
Westen. | |
## Mit Blauschimmelkäse-Dip und Sellerie | |
Verschiedene Zubereitungsarten entstanden: „Buffalo Wings“ werden mit | |
Blauschimmelkäse-Dip und Sellerie serviert, „Country Fried Chicken“ in | |
Buttermilch eingelegt und mit einer Mischung aus Mehl und Gewürzen paniert, | |
als Beilagen gibt es Grünkohl mit Bacon, Kartoffelpüree mit Bratensoße, | |
Coleslaw-Salat, Maisbrot oder Buttermilch-Biscuits. Für den besonders | |
scharfen „Nashville Hot Style“ werden die Hähnchenteile mit einer | |
Tabasco-Sauce glasiert. Sie ist so scharf, dass nur einfaches Toast und | |
saure Gurken dazu serviert werden. | |
Ein weißer Tankstellenbesitzer in Kentucky machte Fried Chicken dann zum | |
Bestandteil der Fastfoodwelt. Harland D. Sanders kam 1930 auf die Idee, | |
einen neuartigen Druckkochtopf zu einer Schnellfritteuse umzubauen. | |
Zusammen mit einem „Geheimrezept“ aus elf Kräutern und Gewürzen für die | |
Panierung verkaufte er seine Zubereitungsmethode an andere Restaurants. | |
Sie zahlten für jedes nach seinem Rezept zubereitete Gericht 5 Cent | |
Lizenzgebühr. Es war der Beginn von „Kentucky Fried Chicken“, heute eine | |
der weltweit größten Fastfoodketten. Der Erfolg des später nur noch | |
„Colonel Sanders“ genannten Unternehmers, der gern im | |
Südstaaten-Kolonial-Look auftrat, ist typisch für die doppelten Standards, | |
die Schwarzer Kultur oft entgegengebracht werden. Einerseits nutzt die | |
weiße Bevölkerung Fried Chicken, um Afroamerikaner:innen zu | |
beleidigen, gleichzeitig übernimmt sie das Gericht in die eigene Küche. | |
In der Netflix-Serie „Ugly Delicious“ erzählt der koreanisch-amerikanische | |
Moderator David Chang, wie ein Schwarzer Freund ihm die Teilnahme an einer | |
Folge über Fried Chicken absagte: „Du wirst mich niemals im Fernsehen | |
frittiertes Hühnchen essen sehen!“ Dass Schwarze Fried Chicken – oder auch | |
Wassermelonen – essen, ist bis heute ein rassistisches Stereotyp. Das zeigt | |
auch der Skandal um eine britische Antigewaltkampagne aus dem Jahr 2019, | |
bei der Slogans gegen das Tragen von Messern ausschließlich auf | |
Fried-Chicken-Schachteln gedruckt wurden – um vermeintlich gefährliche | |
Jugendliche zu erreichen. | |
## Esskultur lebt von konstanter Evolution | |
Ist es denn aber kulturelle Aneignung, wenn ein Szene-Restaurant in Berlin | |
Fried Chicken serviert? Sollten lediglich Schwarze Köch:innen Hühnchen | |
frittieren? Auf gar keinen Fall! Essen lebt von seiner konstanten | |
Evolution, außerdem findet sich auch in anderen Ländern frittiertes | |
Geflügel. | |
So gibt es in Japan die traditionelle Zubereitungstechnik Karaage, bei der | |
Hühnchenteile mariniert, in einer Mischung aus Stärke und Mehl gewälzt und | |
frittiert werden. In Korea machten stationierte US-Truppen Fried Chicken | |
populär, dort wird es heute gern mit einer Sauce aus der | |
Chili-Sojabohnen-Paste Gochujang glasiert. Das österreichische Backhendl | |
fand seine erste Erwähnung in einem Wiener Kochbuch von 1718. | |
In den USA wiederum bekommen Schwarze Köch:innen endlich mehr | |
Aufmerksamkeit. Sie befreien die Südstaatenküche vom Soulfood-Klischee, | |
indem sie Gerichte modern interpretieren und die diasporischen Bezüge zu | |
Afrika, der Karibik oder nach Südamerika stärken. | |
Dass nun im Barra das Fried Chicken mit Brioche und Naturwein serviert | |
wird, ist die Verbindung kulinarischer Kulturen, die vorher nichts | |
miteinander zu tun hatten. Und gerade solche Kombinationen machen Essen so | |
spannend. Doch wie das Beispiel Fried Chicken zeigt, lohnt es, einen Blick | |
in die Geschichte eines Gerichts zu werfen. Um zu verstehen, was es für die | |
Menschen bedeutet, deren Vorfahren das Huhn so schmackhaft gemacht haben. | |
18 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Leonard Maximilian Schulz | |
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