# taz.de -- Netflix-Dokserie „High on the Hog“: Politik auf den Tellern | |
> Weder überkandidelt sinnlich noch völlig verteufelt. Die Geschichte | |
> afroamerikanischer Küche ohne Extreme, aber als eine der | |
> Selbstermächtigung. | |
Bild: Stephen Satterfield und Dr. Jessica B. Harris auf kulinarischer Reise | |
Geht es um afroamerikanisches Essen, wird es oft in Extremen behandelt. In | |
Filmen soll es uns meistens etwas über Authentizität erzählen. [1][Wie in | |
„The Help“,] als die Schwarze Köchin den dünnen Blondinen der Nachbarscha… | |
das echte Kochen beibringt: mit Seele, Panade und viel Crisco. | |
Im politischen Raum wurde dieses Soul Food nicht zuletzt durch New Yorks | |
[2][Schwarzen Bürgermeister Eric Adams] völlig anders konnotiert. Er | |
betrachtet die Küche als kontinuierliche Versklavung der Schwarzen | |
Community Amerikas, da sie aus der Zeit stammt, in denen Nahrungsreste an | |
Sklaven gegeben und hochkalorisch zubereitet wurden. Heute sorge sie für | |
überdurchschnittlich hohe Todeszahlen. Überkandidelte Genussfähigkeit und | |
Sinnlichkeit als Schwarzes Charakteristikum auf der einen, völlige | |
Verteufelung einer historischen Essenskultur auf der anderen Seite. Wie | |
jenseits dieser Extreme auf afroamerikanische Küche geblickt werden kann, | |
zeigt die zweite Staffel der Dokuserie „High on the Hog“. | |
Stephen Satterfield, afroamerikanischer Food-Autor, Produzent und | |
Medienunternehmer, lädt uns in vier Folgen ein, an völlig unterschiedlichen | |
Tischen Platz zu nehmen, und entfaltet eine multiperspektivische Sichtweise | |
auf afroamerikanische Küche, die viel mehr zeigt als Kochtöpfe und Reis. | |
## Die gläsernen und sichtbaren Decken | |
Jede der erzählten Geschichten zeigt: Wer kocht, hat Macht. Ein fast | |
Hundertjähriger erzählt, wie Schwarze Kellner nicht mit ihrem Namen, | |
sondern mit dem ihres Vorgesetzten, einem weißen Großindustriellen, | |
angesprochen wurden und ein Angestellter antwortete: „Mein Name ist nicht | |
George. Wenn Sie jemanden George nennen wollen, machen Sie ein Baby und | |
nennen es George.“ Den gläsernen wie den sehr gut sichtbaren Decken dieser | |
Biografien, Demütigung und Gewalt wird Essen entgegengesetzt. Essen als | |
Art, von einer besseren Zukunft zu träumen und für sie zu kämpfen, Essen | |
als eigenes Sprachsystem, gemeinschaftsstiftend, zugehörigkeitsschaffend. | |
Essen steht hier für Stolz, Würde, Emanzipation. | |
Fried Chicken etwa wurde häufig als „shoebox lunch“ aus Pappkartons | |
gegessen und entwickelte sich so zu einem Widerstandssymbol: Als einfach zu | |
transportierendes Mittagessen zur Zeit der Segregation ermöglichte das | |
Gericht ein Essen auf Reisen, auch wenn in Restaurants kein Zwischenhalt | |
gemacht werden durfte. Für Kinder wurden die Boxen oft wunderschön beklebt, | |
damit das Essen ein Erlebnis wird. | |
Die künstlerische Bewegung „Harlem-Renaissance“ der 1920er Jahre wäre ohne | |
die zusammenschweißende Kulinarik kaum möglich gewesen, obwohl das neben | |
Literatur und Kunst oft vergessen werde: „Dieses Gemälde zu malen, diese | |
Lieder zu singen, das könnten wir nicht ohne unser Essen.“ | |
Auch das Civil Rights Movement brauchte Gastronomien als geschützte Räume | |
und wurde maßgeblich von Schwarzen Köchinnen und Bäckerinnen unterstützt: | |
Der 381-tägige Busboykott der Schwarzen Community nach der Verhaftung von | |
Rosa Parks etwa wurde mitfinanziert von der Graswurzelbewegung Club from | |
Nowhere unter Georgia Gilmore, die Kuchen, Sandwiches und Gebäck verkaufte | |
und den gesamten Gewinn der Bürgerrechtsbewegung zukommen ließ. Wenn es | |
abends für die gerade aus dem Gefängnis entlassenen Studierenden | |
Kartoffelsalat und süßen Tee im Diner gab, dann lässt das die Wirkkraft von | |
Essen erahnen. | |
„High on the Hog“ zeigt Essen auf eine Weise, wie wir es selten sehen: Als | |
warmen Energiespender für das, was wichtig ist. Als Genuss, aber nicht als | |
Selbstzweck. Als Quelle von Kraft und Gemeinschaft. Netflix ordnet die | |
Dokuserie mit den Schlagwörtern „inspirierend“ und „emotional“ ein, und | |
ausnahmsweise ist das sogar eine Untertreibung. | |
26 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Marie-Sofia Trautmann | |
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