# taz.de -- Völkermord an den Armeniern: Große Forschungslücken | |
> Die türkische Leugnung des Genozids hat den Zugang zu Archiven und | |
> anderen Quellen lange Zeit nahezu unmöglich gemacht. | |
Bild: Armenier*innen demonstrieren 2019 in Thessaloniki gegen den Völkermord i… | |
BERLIN taz | An [1][jedem 24. April] gehen Armenier*innen auf der | |
ganzen Welt auf die Straße. Sie gedenken der Opfer des [2][Völkermords an | |
den Armenier*innen] im Osmanischen Reich und fordern Gerechtigkeit. Im | |
Jahr 1915 ließen die türkischen Behörden in Konstantinopel (seit 1922: | |
Istanbul) die gesamte armenische Führungsschicht verhaften und ermorden. | |
Dies war der Beginn der Vertreibung und systematischen Vernichtung von bis | |
zu 1,5 Millionen Armenier*innen durch das Osmanische Reich. | |
Die Türkei leugnet diesen Genozid bis heute. Demgegenüber haben | |
mittlerweile über 30 Länder diese Massaker als Völkermord anerkannt – | |
[3][der Bundestag verabschiedete 2016 eine entsprechende Resolution]. | |
Auch die Genozidforschung trägt zu der internationalen Anerkennung und | |
Aufarbeitung bei. Betrachtet man Forschungen zur Vernichtung der | |
Armenier*innen, ist diese Sach- und Fachliteratur seit den 1980er | |
Jahren so stark angewachsen, dass der Völkermord an den Armenier*innen | |
als der am stärksten erforschte nach dem Holocaust gelten muss. | |
Gibt es dennoch Forschungslücken? Die [4][Berliner Soziologin und | |
Armenologin Tessa Hofmann] geht auf die Frage ein. Fast ihr ganzes Leben | |
lang forscht Hofmann zu dem Genozid an Christen im Osmanischen Reich. Sie | |
interessiert sich für Geschlechterdifferenz, privaten und staatlich | |
organisierten Kindesraub sowie Narrative der Überlebenden. Als | |
methodisches Problem betrachtet sie dabei, dass zwischen der Tatzeit im | |
Ersten Weltkrieg und dem Beginn der publizistischen und mehr noch der | |
wissenschaftlichen Aufarbeitung seit den 1960er Jahren viel Zeit | |
verstrichen ist und kaum noch auf Augenzeugen zurückgegriffen werden kann, | |
die die Deportationen und Massaker der Jahre 1915 und 1916 als Erwachsene | |
erlebten. | |
„Obwohl die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen im | |
Völkermord an den Armenier*innen besonders auffällig ist, wurde der | |
Geschlechterdifferenz lange Zeit kaum Beachtung geschenkt“, sagt Hofmann. | |
Möglicherweise deshalb, glaubt sie, weil das Schicksal der Frauen in diesem | |
Genozid zu schambesetzt sei. Themen wie Zwangs- und Hungerprostitution, | |
Vergewaltigung, aber auch die Verstoßung von Zwangsgeschwängerten und | |
Zwangsprostituierten durch ihre Herkunftsgruppe scheinen zur Tabuisierung | |
geführt zu haben. | |
Jahrzehntelang stand besonders in Deutschland nicht nur die Erforschung des | |
Ersten Weltkriegs im Schatten der Forschungen zum Zweiten Weltkrieg, | |
sondern auch die vor, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg | |
verübten Genozide im Osmanischen Reich. Forschungslücken entstanden auch | |
deshalb, sagt Hofmann, weil bis weit in die 1980er Jahre hinein versucht | |
wurde, den osmanischen Genozid im Rahmen der Shoah zu erklären: „Und das | |
versperrte den Blick auf manche osmanischen Spezifika, die für die Shoah | |
untypisch waren.“ | |
## Die Männer wurden getötet | |
Als Beispiel nennt sie die Elemente des osmanischen Genozids, die eben | |
durch dschihadistische Tradition geprägt waren – direkte Tötung von Männern | |
sowie Verschleppung und Versklavung von Frauen und Kindern. Dem stellt die | |
Genozidforscherin die unterschiedslose Vernichtung in der Shoah | |
gegenüber: „Klar, auch in den Konzentrationslagern gab es | |
Zwangsprostitution, aber zur Zwangsarbeit wurden Männer wie Frauen | |
herangezogen, im Unterschied zum Osmanischen Reich.“ | |
Es gibt weitere Defizite. Die Unzugänglichkeit von Quellen bildet das | |
größte Problem für eine detaillierte und vertiefende Forschung für die | |
Wissenschaftler*innen am Institut für Diaspora- und | |
Genozidforschung (IDG) an der Ruhr-Universität Bochum. Für den | |
Gründungsdirektor Mihran Dabag liegt der Grund in der türkischen Leugnung | |
des Genozids, in deren Folge der Zugang zu den Archiven und anderen | |
Quellenmaterialien nicht nur erschwert, sondern lange Zeit nahezu unmöglich | |
gemacht worden sei. | |
„Dies betrifft etwa Nachlässe wie Memoiren, Tagebücher, Schriftstücke von | |
Politikern, Tätern und anderen Beteiligten, die beispielsweise grundlegend | |
wären für eine ‚Täterforschung‘, wie wir sie aus dem Kontext der | |
Forschungen zu Nationalsozialismus und Holocaust kennen“, sagt Dabag. | |
Tessa Hofmann sieht das Problem weniger in den verschlossenen Archiven als | |
in der Vernichtung von Akten, Korrespondenz und Unterlagen zum Zeitpunkt | |
der osmanischen Kapitulation Ende Oktober 1918. „Das betrifft sowohl das | |
jungtürkische Parteiarchiv als auch das Archiv der kaiserlich-deutschen | |
Militärmission im Osmanischen Reich, wodurch bestimmte Aspekte der | |
deutsch-osmanischen Allianz vor und während des Ersten Weltkriegs sich wohl | |
nie mehr hinreichend und abschließend belegen lassen“, sagt sie. | |
„Vermutungen zum Thema des deutsch-türkischen Militärbündnisses sind | |
hingegen publizistisch ausführlich geäußert worden“, merkt Hofmann an. | |
## Lange Zeit ein Tabu-Thema in Armenien | |
Ein weiteres Forschungshindernis war der Umstand, dass im sowjetisch | |
beherrschten Rest-Armenien eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem | |
Genozid erst Ende der 1960er Jahre überhaupt möglich wurde. „Bis dahin galt | |
die literarische, publizistische, aber auch wissenschaftliche Beschäftigung | |
mit diesem Aspekt der armenischen Geschichte als Nationalismus und wurde | |
verfolgt beziehungsweise unterdrückt oder fiel der Selbstzensur der | |
Wissenschaftler und Publizisten zum Opfer“, sagt Hofmann. | |
Die Bochumer Forscher*innen konzentrieren sich nicht nur auf die | |
kollektive Gewalt. Die armenische Diaspora, die heute nach | |
unterschiedlicher Schätzung bis zu sieben Millionen Menschen zählt, ist | |
durch den Völkermord und die Vertreibung erheblich verstärkt worden, sodass | |
die Mehrheit armenischstämmiger Menschen außerhalb ihrer historischen | |
Heimat leben muss. | |
Der Name des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung bezieht sich | |
nicht allein auf die armenische Erfahrung. „Er trägt dem Umstand Rechnung, | |
dass Genozide nicht allein eine lange Vorgeschichte haben, sondern auch | |
tiefgreifende Folgen für die Gemeinschaften der Opfer und Überlebenden – so | |
zum Beispiel die Entstehung unumkehrbarer Gemeinschaftsformen in der | |
Zerstreuung, der Diaspora“, sagt Dabag. Deshalb gehören Forschungen zu | |
Exil, Migration und den Strukturen transnationaler Gemeinschaften sowie zu | |
den langfristigen Folgen und der intergenerationellen Tradierung von | |
Gewalterfahrung fest in das Forschungsprofil seines Instituts. | |
Doch fehle es an institutioneller Förderung. „Die Forschung hängt häufig | |
von der Initiative und dem Engagement Einzelner ab und erfährt recht wenig | |
Unterstützung“, sagt er. „Eine vertiefende Forschung bedarf einer | |
gesellschaftlichen Akzeptanz des Themas. Leider treffen Forschungen in | |
Deutschland zum Völkermord an den Armenier*innen immer auch auf | |
Sensibilitäten hinsichtlich der Beziehungen zur Republik Türkei.“ | |
24 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Voelkermord-an-den-Armeniern/!5680876 | |
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[4] /Der-Hausbesuch/!5718467 | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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