# taz.de -- Annäherung von Türkei und Armenien: Sie wollen miteinander reden | |
> Jerewan und Ankara haben Sondergesandte ernannt, um die Feindschaft | |
> zwischen den Ländern zu überbrücken. Das Ziel: diplomatische Beziehungen. | |
Bild: Anfang Dezember traf sich Paschinjan mit dem aserbaidschanischen Präside… | |
ISTANBUL taz | Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kurz nach | |
dem [1][Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan] im November | |
2020 Armenien dazu aufrief, die Beziehungen zur Türkei wieder zu | |
verbessern, klang das noch wie eine Provokation. Ausgerechnet nach der | |
demütigenden Niederlage im Kampf um Bergkarabach, für die die Armenier ganz | |
wesentlich die Türkei verantwortlich machten, sollten Gespräche mit dem | |
„Todfeind“ geführt werden? | |
Die Aufforderung Erdoğans blieb unbeantwortet, stattdessen versuchte die | |
Opposition in Armenien Regierungschef Nikol Paschinjan zu stürzen, der für | |
die Niederlage verantwortlich gemacht wurde. Doch Paschinjan konnte im Juni | |
dieses Jahres [2][vorgezogene Neuwahlen gewinnen,] die Stimmung begann sich | |
zu drehen. | |
Die Wut in Armenien wich einer tiefen Trauer. Bald jede Familie der nur | |
drei Millionen Einwohner hatte einen [3][Toten des Krieges] zu beklagen. | |
Paschinjan warb dafür, sich der Zukunft zu stellen und trotz der Niederlage | |
eine neue Basis mit Aserbaidschan und der Türkei zu suchen. Im Hintergrund | |
drängten die USA und die EU, die den Südkaukasus [4][nicht gänzlich | |
Russland überlassen] wollen, den Waffenstillstand durch Gespräche sicherer | |
zu machen. | |
Anfang Dezember traf sich Paschinjan mit dem aserbaidschanischen | |
Präsidenten Ilham Alijew in Brüssel. Unter der Moderation von | |
EU-Ratspräsident Charles Michel wurde über einen Gefangenenaustausch | |
gesprochen und über Möglichkeiten, zerstörte Straßen und andere | |
Infrastruktur wiederherzustellen. Die EU sei bereit, dafür Gelder zur | |
Verfügung zu stellen. | |
## Arbeit an diplomatischen Beziehungen | |
Fast gleichzeitig kündigte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu … | |
dass die Türkei sich darum bemühe, die Beziehungen zu Armenien wieder neu | |
aufzubauen. Çavuşoğlu erklärte, die Regierung werde den Topdiplomaten und | |
früheren Botschafter in Washington, Serdar Kılıç, zum Sondergesandten für | |
Gespräche mit Armenien ernennen. | |
Letzte Woche kam nun eine positive Antwort aus Jerewan: Am 18. Dezember | |
erklärte der Sprecher des Außenministeriums, dass der stellvertretende | |
Parlamentsvorsitzende Ruben Rubinjan als Partner von Kılıç ebenfalls zum | |
Sondergesandten für Verhandlungen mit der Türkei ernannt wurde. Das Ziel | |
der Gespräche soll sein, diplomatische Beziehungen zwischen beiden Ländern | |
aufzubauen und in einem ersten Schritt die seit 1993 geschlossene Grenze | |
zwischen Armenien und der Türkei wieder zu öffnen. | |
Einen ähnlichen Anlauf hatte es schon einmal 2009 gegeben. Damals wurde | |
sogar eine Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen unterschrieben, die | |
aber letztlich im Parlament nicht ratifiziert wurde. Auf türkischer Seite | |
scheiterte die Annäherung damals vor allem am Einspruch Aserbaidschans, das | |
sich gegen eine Aussöhnung zwischen seinem türkischen Alliierten und | |
Armenien wehrte, solange die „armenische Besatzung“ rund um Bergkarabach | |
nicht beendet sei. | |
Nach dem [5][militärischen Sieg Aserbaidschans] und der Rückeroberung der | |
ehemals von Armenien besetzten Gebiete entfällt dieses Argument jetzt. Nun | |
will Alijew in Absprache mit Erdoğan aus einer Position der Stärke heraus | |
sogar Verhandlungen mit Armenien und Georgien, um den gesamten Südkaukasus | |
mit Straßen und Schienen zu modernisieren. | |
Für das isolierte Armenien ist erst einmal am wichtigsten, dass die Grenze | |
zu Türkei geöffnet wird. Bislang ist das Land ohne Zugang zu irgendwelchen | |
Märkten zwischen der Türkei und Aserbaidschan eingeklemmt, denn auch über | |
Georgien und Iran ist nur wenig Handel möglich. Paschinjan scheint auch | |
bereit, dafür erst einmal die Forderung nach [6][Anerkennung des | |
Völkermordes durch die Türkei] zurückzustellen, was Armenien bislang immer | |
zur Voraussetzung für eine Normalisierung der Beziehungen gemacht hatte. | |
Schon ab Januar sollen erste Charterflüge zwischen Istanbul und Jerewan | |
starten. | |
22 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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