# taz.de -- Gedenken an Armenien-Völkermord: Vergeltung in Charlottenburg | |
> Talat Paşa gilt als Hauptverantworlicher für den Genozid an den | |
> Armeniern. Vor 100 Jahren wurde er in Berlin erschossen. | |
Bild: Soghomon Tehlirian wird freigesprochen, seine ganze Familie war im Genozi… | |
Berlin taz | Eine einzige Kugel in den Kopf beendete am Morgen des 15. März | |
1921, also vor exakt 100 Jahren, das Leben von Mehmet Tâlat Paşa. Unzählig | |
viele Leben hatte der frühe Innenminister und spätere Großwesir des | |
Osmanischen Reichs selbst auf dem Gewissen. Unter dem Decknamen Ali Sai | |
lebte er seit 1918 in einer großen Wohnung in der Hardenbergstraße 4 in | |
Charlottenburg. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs war Tâlat mit | |
weiteren Funktionären vor einer Verurteilung nach Deutschland geflüchtet, | |
wo er dann vom Armenier Soghomon Tehlirian erschossen wurde. | |
Im April 1915 hatte Tâlat die Deportationen von Armenier*innen | |
angeordnet und damit die Massaker und Vertreibungen in die Wüste zu | |
verantworten. Bis zu 1,5 Millionen Menschen sollen umgekommen sein während | |
des Aghet, der Katastrophe, wie der Völkermord unter Armenier*innen | |
auch genannt wird. | |
Das Bündnis „United Against Turkish Fascism“, eigener Aussage nach eine | |
Gruppe aus armenischen, jesidischen, kurdischen, assyrischen und türkischen | |
Mitgliedern, ruft zum 100. Jahrestag der Vergeltungsaktion zur Demo | |
„Gerechtigkeit für die Opfer vom Völkermord!“ auf und plant mit bis zu 300 | |
Teilnehmer*innen von jener Hardenbergstraße bis vor die türkische | |
Botschaft am Tiergarten zu ziehen. „Gerechtigkeit heißt nicht nur, dass der | |
türkische Staat den Genozid anerkennt und die Aufarbeitung der Taten | |
voranbringt. Es heißt auch Gerechtigkeit für die lebenden Nachkommen der | |
Opfer“, so die Aktivist*innen. | |
Dabei kritisieren sie auch die neo-osmanischen Fantasien und anhaltende | |
Kriegspolitik der heutigen Türkei. „Die ursprünglichen Absichten, die zum | |
Genozid führten, sind für die türkische Regierung bis heute aktuell: Die | |
vollständige Türkisierung ehemaliger Territorien durch die Auslöschung | |
bestimmter Völker und die Assimilation von Anderen.“ | |
## Gericht spricht Mörder frei | |
Unbehelligt und ohne Reue plante Tâlat vom Exil aus sein politisches | |
Comeback. Zur Rechenschaft durch Selbstjustiz zog ihn erst der 23-jährige | |
Tehlirian, der vorgab in Berlin zu studieren. „Ich habe ihn getötet, aber | |
ich bin kein Mörder“, schilderte er dem Kriminalgericht in Moabit. Die | |
Schilderung der Massaker und seines Traumas durch den Verlust der während | |
des Genozids ermordeten Familie überzeugten das Gericht von seiner | |
Schuldunfähigkeit. Nach einem kurzen medienwirksamen Prozess, in dem er | |
kein Bedauern für seine Tat ausdrückte, wurde Tehlirian freigesprochen. | |
Erst später wurde klar: Tehlirian erhielt Unterstützung und war Teil der | |
globalen armenischen Operation „Nemesis“, die für den Genozid | |
Verantwortliche aufspürte und umbrachte. | |
In der Genozidforschung gilt Leugnung als finale Stufe des Genozids. Auch | |
ein Jahrhundert später ist die Türkei nicht bereit den Genozid anzuerkennen | |
und verhindert damit die Aufarbeitung oder Chance für Versöhnung. Daran | |
änderte auch nichts die 2016 verabschiedete Bundestagsresolution, in der | |
Deutschland den Völkermord nach einem Jahrhundert als solchen anerkannte. | |
Dennoch kritisieren die Büdnisaktivist*innen Deutschland wegen der | |
damaligen Beihilfe am Genozid und fordern „nicht nur die Anerkennung dieser | |
Rolle, sondern den sofortigen Abbruch aller staatlichen und militärischen | |
Partnerschaften mit der Türkei.“ Tatsächlich zeigt der Fall frühe | |
Verflechtungen zwischen den Ländern. In einem Brief an Tehlirian im Zuge | |
der Operation Nemesis heißt es, dass Berlin als erstes Ziel für Vergeltung | |
gewählt wurde, weil die Mörder hier Zuflucht fanden. | |
## Kein Ort erinnert an diese Geschichte | |
Talâts Grab wurde 1943 nach Istanbul verlegt. Heute erinnert in Berlin kein | |
Ort an diese Geschichte, den Genozid, an Tehlirian oder Tâlat. Jedoch war | |
das Attentat nicht das einzige in Berlin. „Ermordet am 17. April 1922 durch | |
armenische Terroristen“ heißt es im weißen Marmor der Grabstätte von Cemal | |
Azmi und Bahâddin Sakir. Beide waren als wichtige Funktionäre | |
mitverantwortlich für genozidale Gräueltaten. Nur liegen die 2011 | |
erneuerten Ehrengräber nicht in der Türkei, sondern auf dem seit 1866 | |
bestehenden türkischen Friedhof mitten in Berlin. | |
15 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Levin Kaplan | |
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