# taz.de -- Kinotipp der Woche: Erzählstrukturen mit Reibung | |
> Das Filmmuseum Potsdam schenkt dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zum | |
> 90. Geburtstag eine Filmreihe, unter anderem mit „Berlin – Ecke | |
> Schönhauser“. | |
Bild: Nach Wolfgang Kohlhaases Drehbuch: „Berlin – Ecke Schönhauser“ (R:… | |
Eine Gruppe Jugendlicher rund um die Schönhauser Straße. Unter der | |
U-Bahn-Station wird unter dem Murren der Passanten Rock’n’Roll getanzt. | |
Eine Gruppe junger Männer und eine junge Frau. Bevor Angela hoch darf, | |
zurück in die Wohnung, wo die Mutter sich mit ihrem verheirateten Liebhaber | |
trifft, fragt Dieter lieber nochmal. „Was für Männer gefalln Dir’n | |
eigentlich?“ „Ärzte und Boxer.“ „Quatsch, ich meine wie die aussehen | |
müssen.“ „Wie Marlon Brando.“ Sie grinst in sein verdutztes Gesicht und | |
macht die Tür hinter sich zu. | |
Dieter ist der Held des Films, der einzige der Jugendlichen mit Arbeit und | |
dem Herz auf dem rechten Fleck. Als die Bubis von der Freien Deutschen | |
Jugend (FDJ) ihn für sich gewinnen wollen, lässt er sie gekonnt abblitzen. | |
Ekkehard Schall, von Brecht fünf Jahre zuvor ans Berliner Ensemble geholt, | |
spielt die Rolle in Gerhard Kleins „Berlin – Ecke Schönhauser“ körperli… | |
leicht berlinernd, sehr geerdet. Das Drehbuch zu Kleins Halbstarkenfilm | |
stammt von Wolfgang Kohlhaase. „Berlin – Ecke Schönhauser“ ist einer von | |
zwei Filmen, mit denen das Filmmuseum Potsdam eine [1][Onlinefilmreihe zu | |
Kohlhaases 90. Geburtstag] eröffnet. | |
„Wenn die FDJ auf der Leinwand erscheint, gibt es im Kino Gelächter.“ | |
moniert 1957 eine Leserzuschrift in der Jungen Welt. Die vermeintliche | |
Schwäche ist eine Stärke. Regisseur Klein und Drehbuchautor Kohlhaase | |
balancieren den Film zwischen Milieustudie und Momentaufnahme der | |
städtischen Jugend in einem Land, einer Teilstadt auf der Suche nach sich | |
selbst. | |
In dieser Balance und den Verlockungen des Geschäftemachens ähnelt er dem | |
bekanntesten Halbstarkenfilm Westdeutschlands, Georg Tresslers „Die | |
Halbstarken“. Wie Tresslers Film hebt sich auch „Berlin – Ecke Schönhaus… | |
neben dem präzisen Drehbuch durch die Kameraarbeit aus vielen Filmen jener | |
Jahre hervor. Wolf Göthes Bilder zu Kleins Film entfalten in den Nischen | |
ein Eigenleben mit Bewegungsunschärfen und angeschnittenen Figuren. Von | |
offizieller Seite schlug „Berlin – Ecke Schönhauser“ nach der | |
Fertigstellung Kritik entgegen. | |
## Verbotener Film | |
Klein und Kohlhaase bildeten seit dem Kriminalfilm „Alarm im Zirkus“ von | |
1954 ein Gespann und arbeiteten auch nach „Berlin – Ecke Schönhauser“ | |
weiter zusammen. 1961 folgt „Der Fall Gleiwitz“ über den inszenierten | |
Überfall auf einen deutschen Rundfunksender, der den Überfall auf Polen | |
rechtfertigen soll, der den Zweiten Weltkrieg auslösen sollte. 1963 | |
„Sonntagsfahrer“ über einen Autoausflug nach Berlin, initiiert von einem | |
Spießbürger. „Berlin um die Ecke“ geriet 1965 in den Furor der | |
spießbürgerlichen Kulturpolitik des Kahlschlag-Plenums des Zentralkomitees | |
der SED und wurde noch vor der Fertigstellung verboten. | |
Kohlhaase begann bei der Jugendpresse der DDR, erst bei der Zeitschrift | |
„Start“, dann beim Organ der FDJ „Junge Welt“. 1950 nahm er den Film au… | |
begann als Dramaturg, dann als freier Drehbuchautor für die DEFA zu | |
arbeiten. Neben der Arbeit für den Film arbeitete Kohlhaase als | |
Schriftsteller. | |
Ab 1968 steuert Kohlhaase wiederholt Drehbücher zu Filmen von Konrad Wolf | |
bei. Die Zusammenarbeit beginnt mit „Ich war neunzehn“, der nach | |
Erinnerungen von Konrad Wolf die Befreiung Berlins durch die sowjetische | |
Armee zeigt. 1974 folgt „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ über einen | |
eigensinnigen Bildhauer im Ringen mit dem selbst erklärten Arbeiter- und | |
Bauernstaat. Die Zusammenarbeit spannt sich bis zu einem der bekanntesten | |
DEFA-Filme: „Solo Sunny“ von 1980, Wolfs letztem Spielfilm. Das Filmmuseum | |
Potsdam macht in seiner Reihe einen Bogen um diese Klassiker des DEFA-Films | |
und greift stattdessen auf einen Film zurück, der seltener gezeigt wird. | |
## Selten zu sehen: „Mama, ich lebe“ | |
1976 dreht Wolf nach einem Drehbuch von Kohlhaase einen Film über eine | |
Gruppe deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg, die in sowjetische | |
Gefangenschaft geraten sind und beschließen, auf Seiten der sowjetischen | |
Armee zu kämpfen. „Mama, ich lebe“ ist ein komplexes Gefüge komplexer | |
Figuren in historischer Situation. Von den deutschen Mitgefangenen | |
angefeindet, von den meisten sowjetischen Soldaten kritisch beäugt, sucht | |
das Grüppchen nach seiner Rolle – und scheitert schließlich an dieser | |
Rolle. | |
Der Film ist eine Art historischer Fiktion ausgehend vom Foto einer Gruppe | |
deutscher Soldaten in sowjetischen Uniformen. Kohlhaase hatte diese | |
Konstellation 1969 schon für ein Drehbuch genutzt. „Mama, ich lebe“ ist | |
eine hervorragende Wahl für eine Hommage an Kohlhaase. Der Film ist ein | |
Beispiel wie Kohlhaases Erzählstrukturen mit ihrer Leichtigkeit einen Film | |
dominieren können. Umso mehr, wenn der Film dieser Erzählebene keine | |
ähnlich gewichtige andere Ebene zum Beispiel im Bild entgegensetzt. | |
In der Rolle von Kohlhaases Drehbuch in Wolfs Film zeichnet sich also schon | |
jene Rolle ab, die die Drehbücher später in Filmen von Andreas Dresen nach | |
Kohlhaase spielen sollten. Als wohlverfertigte narrative Höhepunkte | |
verpackt in filmischer Konvention. Dieses Reibungsverhältnis lohnt es sich | |
durch Kohlhaases filmische Werkbiografie zu verfolgen. Wen solches | |
interessiert, sei explizit auch auf das Zeitzeugengespräch mit Kohlhaase | |
verwiesen, das ebenfalls online verfügbar ist. Die Onlineretrospektive des | |
Filmmuseum Potsdam ist ein schöner Ausgangspunkt für eine immer wieder neue | |
Annäherung an Kohlhaase. | |
28 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.filmmuseum-potsdam.de/PM-Filmreihe-zum-90-Geburtstag.html | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
## TAGS | |
taz Plan | |
Kino Berlin | |
DDR | |
Drehbuch | |
Filmmuseum | |
Film | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
Werkschau | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Wolfgang Kohlhaase: Urgestein des deutschen Films | |
Mit Filmen wie „Solo Sunny“ hat er deutsche Filmgeschichte mitgeschrieben. | |
Nun ist Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase im Alter von 91 Jahren gestorben. | |
Kinotipp der Woche: Die Trivialität des Gezeigten | |
Das Balázs Béla Stúdió war ein Freiraum im Sozialistischen Ungarn. Das | |
Collegium Hungaricum Berlin widmet ihm eine vierteilige Filmreihe. | |
Filme im Stream: Richtiges Schauspiel, wahre Szenen | |
Archiv-Material und Reenactment in Anders Østergaards „Winterreise“, | |
Kinogeschichte im Filmmuseum Potsdam und ein Konzertfilm von David Lynch. | |
Kinotipp der Woche: Melancholisch und heiter | |
Das Kino Arsenal rückt mit dem Georgischen Filmemacher Otar Iosseliani im | |
April einen der großen europäischen Regisseure ins Zentrum. | |
Streamingtipps für Berlin: Im Zeichen der Ziegel | |
Backstein ist nicht gleich Backstein: Dokus von Volker Koepp und Harun | |
Farocki zeigen Ziegelsteine als alte Kulturtechnik und Grund zum | |
Arbeitskampf. | |
Kinotipp der Woche: Das Verhältnis zur Welt | |
Leonie Krippendorffs zweiter Langfilm „Kokon“ verdichtet einen Sommer des | |
Erwachsenwerdens. Der Salzgeber Club zeigt ihn in seinem Onlineangebot. | |
Programm des Berliner Arsenal: Hyderabad, 1984 | |
Eine Geschichte eskalierender Gewalt: Im Rahmen von „Archive außer sich“ | |
streamt das Arsenal 3 Deepa Dhanrajs Dokumentarfilm „Kya hua is shahar ko?“ | |
Retrospektive im Filmarchiv Austria Wien: Interventionen in die Gegenwart | |
Das Filmarchiv in Wien feiert die früh verstorbene österreichische | |
Regisseurin Margareta Heinrich zu ihrem 70. Geburtstag mit einer | |
Online-Werkschau. |