# taz.de -- Die Wahrheit: Die Aura der Geimpften | |
> Sobald das Vakzin erst im Blut ist, sind die Glücklichen schön, | |
> gottgleich, erhaben und gewähren allen anderen, ein Zipfelchen des Glücks | |
> zu berühren. | |
Bild: Selbst Barbie freut sich, endlich gegen Corona geimpft worden zu sein | |
Es ist Mai oder Juni, dieses oder nächsten Jahres. Endlich wird so richtig | |
Kette geimpft, nur wir halt noch nicht. Als Ungeimpfte treiben wir uns | |
jedoch gern in der Nähe des Eingangs zum Impfzentrums herum, misstrauisch | |
beäugt von den Sicherheitsleuten dort. Ab und zu lässt einer von ihnen ein | |
scharf gezischtes „Ksch!“ hören, wenn wir versehentlich dem | |
Stacheldrahtzaun zu nah kommen, oder hebt auch mal einen Stein auf und tut | |
so, als würde er ihn gleich in unsere Richtung schleudern, obwohl wir | |
durchaus darauf achten, keinesfalls auf das Gelände vorzudringen. | |
Aber wir möchten doch bloß Geimpfte sehen, möchten ihnen nah sein, wenn sie | |
als stolze und freie Menschen beseelt schwatzend und mit erhobenen Häuptern | |
aus dem Impfzentrum kommen. Sobald sie das Areal verlassen, scharen wir uns | |
deshalb in dichten Trauben um sie und versuchen wenigstens eines | |
Zipfelchens des Glückes und der Gesundheit habhaft zu werden, die die | |
frisch Geimpften ausstrahlen. | |
Es ist die Aura von Auserwählten, denn Geimpfte dürfen nun überallhin. | |
Diese Aura macht sie schön, gottgleich, erhaben – sie zieht uns | |
unwiderstehlich an. Uns ist klar, dass wir ungeimpften Parias sie | |
unbotmäßig bedrängen, aber wir wollen indirekt Teil ihres neuen, | |
ungehemmten Lebens sein und den Windhauch des Möglichen um unsere Nasen | |
wehen spüren. | |
## Ungezwungene Fröhlichkeit | |
„Wenn Sie dann in ein Restaurant gehen, könnten Sie für uns vielleicht | |
unauffällig die Tür auflassen?“, fragen wir die Geimpften. „Oder heimlich | |
ein Fenster öffnen? Bühtö!“ Denn wir wünschen uns nichts so sehr, als dass | |
etwas von der ungezwungenen Fröhlichkeit, das Lachen der Gäste, die | |
freundlichen Stimmen des Personals, das Klirren der Gläser zu uns | |
herausdringt. | |
Mit viel Glück würden wir eventuell sogar einen Blick ins Innere erhaschen, | |
ein Fitzelchen Atmosphäre, wie eine fröhlich einander zuprostende Runde, | |
Freunde, Geimpfte, Unverwundbare – Bilder, die wir gierig aufsögen und | |
gründlich in uns abspeicherten. Diese Bilder nähmen wir dann mit, wenn wir | |
hungrig, durstig und allein wieder zurück in unsere kleinen, dunklen | |
Wohnungen schlichen, wo wir sie sorgsam in unseren Herzen bewahrten, auf | |
dass wir möglichst lange von ihnen zehren könnten, bis sie mehr und mehr | |
verblassten und am Ende verschwänden. | |
Manchmal lauern wir auch direkt vorm Kino. „Erzählen Sie uns von dem Film, | |
den Sie gesehen haben?“, fragen wir die nach der Vorstellung glückselig | |
herausströmenden Geimpften. „Bühtö!“ Unsere kugelrunden Äuglein füllen… | |
blitzschnell mit Tränen. | |
## Dürsten nach Einzelheiten | |
Daraufhin erbarmen sich meist die Geimpften und lassen sich mit uns auf | |
einer Bank unweit des Lichtspielpalasts nieder. Wir krabbeln auf ihre | |
Schöße oder Oberschenkel, oder wenn sie sehr alt und vorerkrankt sind, | |
setzen wir uns auch daneben, und sie erzählen uns alles, aber auch wirklich | |
alles, denn uns dürstet nach jeder Einzelheit: die Impfpasskontrolle am | |
Eingang, dann die Kinokasse, alles dauert entsetzlich lang, wie früher, wo | |
man sich darüber immer geärgert hat, doch jetzt ist alles einfach nur | |
wahnsinnig schön. | |
Noch ein Bier, Popcorn oder Magnum Mandel. Die Platzsuche. Die Werbung. | |
Leute, die Stinkedöner fressen, dazwischenquasseln oder zu spät kommen, und | |
alle müssen aufstehen, selbst das ist auf einmal nur noch schön, einfach so | |
herrlich normal, wie früher eben. | |
Schließlich der Film auf einer echten großen Leinwand. Man muss keine | |
Untertiteloption anklicken, und es buffert auch nichts. Der Abspann. Man | |
bleibt noch ein wenig sitzen. Dann erst verlässt man das Kino – auf dem Weg | |
in die Kneipe, ins Restaurant, zu einer Kleinkunstbühne? –, als auf einmal | |
diese ausgehungerte Horde zerlumpter Ungeimpfter auf sie zu… na ja, den | |
Rest kennt ihr ja schon. | |
Manche nicht Geimpfte empfinden auch Neid darüber, dass andere mehr dürfen | |
als sie. Wir nicht. Was hätten wir denn davon, wenn noch mehr | |
unseresgleichen Freudlosigkeit teilte, welchen Gewinn trügen wir davon, | |
dass auch andere litten und unser Elend spiegelten und potenzierten? Gar | |
nichts. Im Gegenteil, so hätten wir noch nicht einmal Zeugen, die uns Kunde | |
geben könnten aus jener Welt der tausend Möglichkeiten und uns so bewiesen, | |
dass sich unser Warten lohnte und es irgendwann eine Erlösung gäbe. | |
7 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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