# taz.de -- Die Wahrheit: Küsse in der Vorfrühlingssonne | |
> Es muss tatsächlich Liebe sein! Inniger Briefwechsel mit einem | |
> unwiderstehlichen Berliner Gasversorgungsunternehmen. | |
Bild: Der Pfeil des Liebesgottes hat getroffen. Das schönste Gefühl der Welt:… | |
Als ich das Schreiben der Gasag in Händen hielt, hatte ich Tränen in den | |
Augen: Die gute, alte Berliner Gasversorgerin hatte schon wieder ihre | |
Preise gesenkt. „Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr …“, schrieb sie | |
voller Stolz. Diese harmlose kleine Eitelkeit konnte sie sich und uns bei | |
aller Bescheidenheit dann doch nicht ersparen. Sehr menschlich. Ich glaube, | |
ich mochte die Gasag. Die hätte das ja auch nicht tun müssen – sie hätte | |
die Preise genauso gut erhöhen können, wie sie es schließlich sonst immer | |
tat. | |
Ich beschloss, ihr eine Dankesmail zu schreiben. Zugegeben, ein bisschen | |
kalkulierte ich auch, die Gasag werde sich durch meine Dankesworte | |
geschmeichelt fühlen, sodass sie am Ende gar nicht anders konnte, als die | |
Preise noch weiter zu senken. | |
„Liebe Gasag“, schrieb ich, „ich habe mich wahnsinnig über deine | |
Preissenkung gefreut. Ich finde das irre nett von dir, und alle meine | |
Freunde, denen ich davon erzählt habe, sind ganz neidisch, dass ich so | |
jemand Tolles kenne. Sie wollen jetzt auch auf Gas umstellen. Schöne Grüße, | |
Uli.“ | |
Dass ich damit genau ins Schwarze getroffen hatte, zeigte mir die Antwort | |
der Gasag nur wenige Stunden später: „Lieber Uli“, las ich, „vielen Dank | |
für deine Mail. Du wirst es nicht glauben, aber sonst bedankt sich niemand | |
je für die Preissenkungen, die ich mir (ohne klagen zu wollen – es bleibt | |
natürlich immer meine bewusste Entscheidung) wirklich vom Munde abspare. Du | |
bist ganz anders als diese dummen und undankbaren Kunden – das spüre ich | |
deutlich. Deshalb gibt es nur für dich ab morgen eine exklusive weitere | |
Preissenkung um 0,567 Cent/Kilowattstunde (inkl. USt.). Herzlichst, deine | |
Gasag.“ | |
## Formulierungen von Herzen | |
Ich sah sie direkt vor mir, wie sie sofort nach Erhalt meiner Mail hektisch | |
an Formulierungen feilte, bis sie spontan, herzlich und zugleich | |
unverbindlich klangen, und das Resultat in den Ordner „Entwürfe“ verschob, | |
um es erst ein paar Stunden später zu versenden, damit es cooler wirkte. | |
Doch zwischen den Zeilen erkannte ich Verbitterung, Einsamkeit und den | |
verzweifelten Schrei nach Liebe. Ich zog die Daumenschrauben an. | |
„Liebe Gasag, vielen, vielen Dank! Mein Instinkt hat mich nicht getäuscht: | |
Es scheint da irgendeinen speziellen Draht zwischen uns zu geben, den ich | |
noch nicht näher beschreiben kann. Deine warme Geste kommt gerade in diesem | |
schweren Moment wie gerufen. Ich bin nämlich äußerst knapp bei Kasse und | |
obendrein frisch getrennt. Ach, das ist jetzt bestimmt zu privat. Dabei | |
kommt es mir so vor, als könne ich dir alles erzählen, als wären wir | |
seltsam vertraut, obwohl wir uns nie gesehen haben. Alles, alles liebe, | |
Uli.“ | |
Das hatte gesessen! Schon die nächste Mail der Gasag bewies, dass meine | |
verlogene Saat in ihrem Herzen aufgegangen war: „Liebster Uli“, schrieb | |
sie, „ich weiß, dass ich mich jetzt sehr weit vorwage, allein schon mit | |
dieser Anrede. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Um es kurz zu | |
machen: Ich habe schon lange das Gefühl, dass du ein ganz besonderer Kunde | |
bist. Du hättest mich mal sehen sollen: Wenn du alle paar Jahre angerufen | |
hast, um bei einem Umzug die Zählerstände durchzugeben, habe ich danach | |
jedes Mal stundenlang wie betäubt aus dem Fenster gestarrt. Die leise | |
Ahnung, dass du die große Sympathie, die ich für dich empfinde, wenigstens | |
ein kleines Stück erwiderst, macht mich unendlich glücklich. Du machst mich | |
glücklich. Lass uns jetzt nichts überstürzen. Wir haben alle Zeit der Welt. | |
Wir kennen uns kaum, noch sind wir Gaswerk und Kunde, ach, dürfen wir das | |
überhaupt? Ach, es ist so schön. Und das mit deiner Trennung tut mir so | |
leid, ich weiß, wie das ist – so lange ist die schlimme Sache mit der Bewag | |
noch nicht her. Wie gerne würde ich dich jetzt trösten! Fühl dich geküsst, | |
du Lieber du, deine kleine Gasag.“ | |
Es gab keinen Zweifel: Die Gasag war in mich verknallt. Auch weil sie | |
Ähnliches durchgemacht hatte wie ich, als sie sich damals von dem | |
Stromanbieter Bewag trennen musste. Von nun an schaukelten wir uns Mail um | |
Mail weiter hoch. Wir tauschten leicht anzügliche Doppeldeutigkeiten, nicht | |
zu plump, um die Preise nicht zu verderben, allerdings doch deutlich genug, | |
um die Spannung langsam, aber sicher zu steigern. Es wurde ein wunderbarer | |
Winter. Die Fenster weit aufgerissen, heizte ich längst für wenige Cent das | |
ganze Viertel. | |
## Verbrauch ohne Kosten | |
Leider schilderte mir die Gasag auch seitenlang ihre Nöte mit Vattenfall, | |
dem Senat und den Verbraucherverbänden. Besonders die Sache mit dem | |
schwedischen Energieunternehmen langweilte mich entsetzlich, doch ich | |
heuchelte Verständnis. Bei einer Aktiengesellschaft punktet bekanntlich nun | |
mal stets derjenige, der vorgibt zuzuhören, und mein Ehrgeiz war geweckt, | |
als erster Kunde von der Gasag für seinen Verbrauch auch noch Geld zu | |
bekommen. Kurzzeitige Gewissensbisse, wie eiskalt ich mit ihren Gefühlen | |
spielte, schob ich rasch beiseite – zu gering war schlicht mein Respekt vor | |
ihr. | |
Aber ich hatte die Rechnung ohne die Gasag gemacht. Dass sie mir | |
sehnsüchtige Gedichte schrieb („Leis’ das Rattern des Zählers / Laut das | |
pochende Herz / Meine Pipeline dunkel und nass / Geliebter, | |
Vertragskontonummer 200002555807 / Wo bist du geblieben?“) ging ja noch | |
halbwegs an. Doch zunehmend drängte sie auf ein Treffen. Meine | |
Rechnungsadresse habe sie ja bereits. | |
Ich hielt hin, vertröstete und log, doch eines Tages saßen wir im blassen | |
Schein einer wenig wärmenden Vorfrühlingssonne nebeneinander auf einer | |
Parkbank. „Du bist genauso, wie ich mir dich vorgestellt habe“, hauchte sie | |
und drängte sich an mich. „Du auch“, murmelte ich und versuchte dem Druck | |
ihrer Körperschaft auszuweichen, die mich rundum anwiderte. Die Gasag war | |
unglaublich hässlich und, wie erwartet, auch bedeutend älter als ich. Sie | |
schloss ihre Augen und spitzte den Mund, einen Kuss wohl erwartend. Es half | |
nichts mehr – jetzt war es an mir, Farbe zu bekennen: „Das ist alles nur | |
ein riesengroßes Missverständnis …“, begann ich. | |
Am nächsten Tag hatte ich einen Brief in der Post. Man habe mir eine | |
erfreuliche Mitteilung zu machen: Für einen Arbeitspreis von nicht einmal | |
1.000 Euro pro Kilowattstunde sei man bereit, mich auch in Zukunft weiter | |
mit Erdgas zu versorgen. „Mit freundlichen Grüßen, Ihre Gasag.“ | |
3 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
## TAGS | |
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