| # taz.de -- Die Wahrheit: TV-Therapie mit TV-Therapeut | |
| > Streaming gucken bis das gelangweilte Hirn rauscht. Über die momentan | |
| > beliebteste verrückte Art der Pandemieüberwindung. | |
| Bild: Pandemiepärchen bei der zurzeit schönsten Nebensache der Welt: Fernsehen | |
| Egal, was man sich vorgenommen hat, „die Pandemie konstruktiv zu nutzen“ – | |
| hatten damals eigentlich auch irgendwelche Hirnis vorgeschlagen, den | |
| Zweiten Weltkrieg konstruktiv zu nutzen? –, um zu entschleunigen, | |
| Fremdsprachen zu lernen, Brot zu backen oder wenigstens mal richtig viel zu | |
| lesen: Alles Quatsch! Das braucht ja im Grunde auch kein normaler Mensch. | |
| Irgendwann sieht man im Grunde nur noch fern. | |
| Wir nennen es Arbeit. Ich schaffe mir extra cineastische Fachbegriffe rein, | |
| lerne über horizontale und vertikale Handlungsstränge; so kann ich mich | |
| selbst belügen, ich hätte irgendeine Bildungsleistung vollbracht: | |
| popkulturelle Erkenntnisse gewonnen, kunstrezeptionistisch an mir | |
| gearbeitet, schuhu, schuhu, so etwa in der Richtung. | |
| Das alles soll davon ablenken, dass hier auf dem Sofa zwei gesunde Menschen | |
| im besten Alter weit vor der Zeit nur noch ihrem Ende entgegen dämmern; | |
| anstatt Morphium über eine Kanüle in der Hand läuft der stete Tropf der | |
| Streaming-Dienste über die Augen direkt ins Gehirn und sorgt für einen | |
| betäubenden Gleichklang von Tag und Nacht, Sinn und Unsinn, Leben und Tod. | |
| Wir ergehen uns in tiefschürfende Analysen über „Toystory I – IV“. Und | |
| selbst zu einer Serie wie „Narcos“ lerne ich, pseudoschlaue Binsen von mir | |
| zu geben, wie „die Exposition der Backstory von Pablo Escobar fand ich ein | |
| bisschen dünne. Da könnte man die Motivation noch stärker herausarbeiten, | |
| warum der hier jetzt zehntausend Leute umbringt?“ Wie ein Trinker, der auf | |
| dem Discounter-Markt-Parkplatz ausgiebig über das Bouquet einer Pappe | |
| Lambrusco rumnerdet. Ganz nebenbei, wer diesen Gewaltporno als „Guilty | |
| Pleasure“ feiert, ersäuft auch Katzenjunge in einem Jutesack. | |
| ## Kammerspiel mit Patienten | |
| Sobald Netflix, Amazon und Co. mal wieder leergeglotzt sind, machen wir uns | |
| wie Geier über die Mediatheken des öffentlich-rechtlichen Greisenfunks her. | |
| Dort findet sich unter anderem die französische Serie „In Therapie“, ein | |
| reines Kammerspiel, in der reihum verschiedene Patienten ihrem | |
| Psychotherapeuten gegenüber auf dem Sofa sitzen und über ihre Probleme | |
| labern. | |
| Oder besser labern sollten. Denn meistens zetern sie bloß rum. Sind hier | |
| eventuell Franzosen anwesend, die mir das erklären können? Ist es | |
| künstlerische Freiheit, dass sämtliche dargestellten Patienten von der | |
| ersten Stunde an komplette Sitzungen damit verbringen, den Therapeuten mal | |
| aggressiv, mal schnippisch abzufertigen, ihn im Schreiton anzufahren, zu | |
| erniedrigen, zu demütigen, zu provozieren, ihm ihre vollkommene Verachtung | |
| auszudrücken, ihn in seiner Kompetenz anzuzweifeln oder sogar anzubaggern, | |
| nur um ihn auch auf diesem Weg erneut herabzusetzen, anzugreifen, zu | |
| verunsichern und wie einen Wurm zu zertreten? | |
| Oder liegt das in der Mentalität begründet? Ich denke mal, in Deutschland | |
| würde man das nicht so machen. Da hätte man mehr Respekt vor seiner | |
| Position. Mit allen Nachteilen, die wiederum das mit sich bringt – | |
| Faschismus, Reformstau, Digitalisierungsdebakel. Ich möchte das hier also | |
| gar nicht werten. Ich bin mir ja noch nicht mal sicher, wie ich das | |
| überhaupt finden soll. Es interessiert mich einfach nur, ob der Status | |
| eines Psychologen in manchen Ländern tatsächlich dem eines Clowns | |
| entspricht, der stündlich Sahnetorten ins Gesicht geklatscht bekommt. | |
| Beziehungsweise dem eines Hofnarren, den der König Kunde köpft, wenn ihm | |
| die Possen nicht gefallen. | |
| ## Gebrauchtwagenhändler der Seele | |
| Mit welcher Verachtung sie ihn behandeln und nach der Sitzung das Geld | |
| hinwerfen; nie lassen sie die geringste Gelegenheit aus, ihn spüren zu | |
| lassen, dass sie ihm null vertrauen und ihn für nichts als einen Scharlatan | |
| halten. Der einzige Grund, warum sie bei ihm auf dem Sofa sitzen, scheint | |
| darin zu bestehen, diesem Gebrauchtwagenhändler der Seele die Maske vom | |
| Gesicht zu reißen. Die Straßenstiefel gehören übrigens nicht aufs Polster, | |
| junge Frau – geht's irgendwie noch?? –, aber ich bin halt auch nur ein | |
| nerviger alter Sack, genauso wie der Therapeut. | |
| Meine Güte, wie sie ihn hassen – man fragt sich im Verlauf der 35 Folgen | |
| bald nur noch, warum sie den armen Tropf nicht einfach totschlagen? Aber | |
| sicher wollen sie ihn gern länger quälen: Das ist Ihnen dann auch 60 Euro | |
| pro Sitzung wert, da können Sie ihn dann nämlich auch noch jedes Mal | |
| pikiert annölen, wie scheiße teuer er ist, obwohl er nichts bringt, nichts | |
| weiß, nichts kann, nichts leistet, nichts ist. | |
| Und immer wissen sie alles besser – wieso sind die überhaupt hier? Ich an | |
| seiner Stelle hätte die anmaßenden Arschgeigen nach einer Minute mit | |
| Karacho rausgeschmissen, aber auf die Weise könnte ich mir natürlich auch | |
| keine großzügige Butze mitten in der Pariser Innenstadt leisten. | |
| Der krönende Treppenwitz der Serie ist jedoch die Supervision, zu der der | |
| Leidgeprüfte regelmäßig eine spürbar überlegene Kollegin aufsucht. Nach | |
| unten Buckeln und nach oben Treten ist eine interessante Turnübung: All den | |
| Schimpf, den er die Woche über selbst erdulden musste, kübelt er nun ihr in | |
| einem larmoyanten und selbstgerechten Winselduktus über den Kopf. Er bringt | |
| ihr das gleiche Misstrauen entgegen, das er von seinen eigenen Patienten | |
| kennt. Mit Mentalität hat das vermutlich eher nichts zu tun. | |
| 12 Apr 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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