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# taz.de -- Illegale Pushbacks nach Bosnien: Das 58. Mal
> Keine EU-Grenze wird so streng bewacht wie die kroatisch-bosnische. Ein
> junger Afghane hat oft versucht, sie zu überwinden. Schafft er es
> diesmal?
Bild: Haben es nicht geschafft: Geflüchtete, die von der kroatischen Polizei g…
Velika Kladuša taz | Azeem Hasbib, ein 16-jähriger Junge, die Haare zu
einem lockeren Zopf gebunden, betritt ein abrissreifes Haus in einem
bosnischen Dorf. Ein Bein zieht er bei jedem Schritt ein wenig hinterher.
„Kaum zu glauben, dass man uns hier findet“, sagt er. Er streift seine
Wanderschuhe ab, bevor er die Küche des Hauses betritt. Die Schuhe, die
sich im kalten Gang des Abrisshauses türmen, sind schlammüberzogen.
Hasbib lächelt. Er heißt eigentlich anders. Er ist ein Mensch auf der
Flucht, deshalb haben wir seinen Namen und die Namen aller Geflüchteten in
dieser Geschichte aus Schutzgründen geändert.
Mit der Frühlingswärme, die in dem bosnischen Grenzdorf bei Velika Kladuša
einbrach, kam für die etwa 150 Geflüchteten, die sich hier wie Hasbib in
Abrisshäusern verstecken, auch der Startschuss, es wieder über die Berge
nach Kroatien zu versuchen. Fast täglich laufen Kinder mit Rollkoffern,
Mütter mit Babys vor der Brust, Väter mit Kleinkindern auf den Schultern an
den unverputzten Dorfhäusern vorbei.
Das Dorf scheint ansonsten weitgehend verlassen zu sein. Die wenigen
Häuser, die noch von Bosniern bewohnt sind, erkennt man an den Autos, die
davor parken.
## Kaum jemand schafft es
Gesäumt von Feldern und Waldstücken, liegt das Dorf nur etwa einen
Kilometer entfernt von der kroatischen Grenze. Kurz hinter einem zerzausten
Friedhof fängt der Waldweg an, den Dutzende Geflüchtete jeden Morgen
entlanglaufen. Es ist der Weg in Richtung EU, in Richtung Kroatien, über
die Berge versuchen sie, sich dorthin durchzuschlagen. Andere, vor allem
Familien mit kleinen Kindern, nähern sich der unsichtbaren grünen Grenze
und bitten die ersten Grenzpolizisten, die sie sehen, um Asyl.
Diese Grenze ist eine der längsten und am stärksten überwachten Grenzen der
Europäischen Union. Es kommen auch Wärmebildgeräte zum Einsatz, die
Bundesinnenminister Horst Seehofer der kroatischen Grenzpolizei übergeben
hat. „Wir stehen Kroatien als Partner zur Seite“, hat er dazu gesagt,
350.000 Euro haben die zehn Geräte gekostet. Sie helfen, Menschen
aufzuspüren, die sich dort aufhalten, wo sie nicht sein sollen. Auch
deshalb schafft es kaum jemand mehr über die Grenze.
Vor zwei Tagen packte Azeem Hasbib, der mit 12 Jahren zusammen mit seiner
Familie aus Herat in Afghanistan geflohen ist, seinen kleinen Rucksack zum
57. Mal mit frischem Wasser, um es über die verminten Berge in die EU zu
schaffen. Der Weg über die Berge ist sehr gefährlich, 50.000 Landminen
liegen immer noch dort im Boden, Relikte des kroatischen
Unabhängigkeitskrieges. Erst am 5. März trat ein Asylsuchender aus Pakistan
in der hügeligen kroatischen Gemeinde von Saborsko auf eine Mine. Er starb
noch an der Unfallstelle. Vier weitere Männer wurden durch die Explosion
verletzt, einer von ihnen schwer.
Zwei Monate zuvor war es Hasbibs Familie gelungen, in die EU zu gelangen –
ohne ihn, da er mit einer weiteren Beinverletzung im Krankenhaus lag. „Nach
30 Kilometern erwischte uns die kroatische Polizei im Wald“, sagt er,
„meinen Freund noch schlimmer als mich.“
Allein im vergangenen Jahr soll es laut dem [1][Danish Refugee Council] zu
mehr als 16.000 illegalen [2][Pushbacks] von Kroatien nach Bosnien und
Herzegowina gekommen sein. Die Vorwürfe von Menschenrechtsgruppen gegenüber
Kroatien wiegen schwer: Nicht nur, dass Schutzsuchende nicht die Chance
bekommen, einen Asylantrag zu stellen. Über 60 Prozent der illegalen
Pushbacks verlaufen laut der dänischen Flüchtlingshilfsorganisation
gewalttätig.
„Es sind immer Männer mit schwarzen Masken, an die wir von der kroatischen
Polizei übergeben werden“, sagt der 41-jährige Khaled Rafat aus Kabul. „S…
schlagen auf die Schultern, damit man keinen Rucksack mehr tragen kann. Sie
brechen die Arme, doch nicht die Beine, damit man noch 30 Kilometer
zurücklaufen kann.“
Rafat steht in einem Abrisshaus inmitten der Stadt Velika Kladuša. Er trägt
ein rotes Polo-Hemd, seine Frau Emira Espadrilles mit goldenen
Glitzersteinen. Sie sehen aus, als wären sie auf dem Weg in die Stadt zum
Einkaufen. Sie führen weiter in ein verrußtes Zimmer, in dem zwei Zelte und
ein kleiner Ofen stehen. Rafat setzt sich auf einen umgedrehten Bierkasten
und schürt den Ofen an. Zwei Ascheflocken setzen sich auf seinen dichten
Wimpern ab.
„Oft brechen sie einem die Brillen und machen die Kinderwägen kaputt“,
erzählt der Vater von drei Kindern. „Doch das Schlimmste sind nicht die
Schläge, es sind ihre Worte.“ Rafat nimmt ein Einwegglas kochendes Wasser
von dem Holzofen neben seinem Zelt und gießt Instant-Nudeln auf, die die
Internationale Organisation für Migration, die IOM, an die gestrandeten
Familien verteilt.
Die Männer mit den schwarzen Masken würden jedes Mal sagen, „dass sie im
Auftrag von Deutschland und Frankreich handelten und dass wir in Bosnien
bleiben sollen, weil wir Muslime sind“, sagt er.
Vor einem Jahr hat die Familie das [3][Lager Moria] auf der griechischen
Insel Lesbos verlassen. Über ein Jahr lang hatten sie auf einen Asylantrag
gewartet, nur ein Teil der Familie wurde anerkannt, so hätten sie nicht
zusammenbleiben können. „Obwohl wir alle die gleiche Fluchtgeschichte
haben“, sagt Rafat. Sie entschlossen sich, über Albanien nach Bosnien zu
reisen und es so wieder in die EU und nach Kroatien zu schaffen. „Unzählige
Male“ hätten sie es seitdem versucht.
In einem Schwarzbuch der Pushbacks legte das [4][Border Violence Monitoring
Network] der EU-Kommission im Dezember vergangenen Jahres 892 Zeugnisse von
Geflüchteten wie von Azeem Hasbib oder Khalet Rafat vor. Sie erzählen von
Hundebissen, erzwungenem Entkleiden und Haft ohne grundlegende Standards.
„Wer sind diese Menschen?“, fragt Rafat immer wieder. Manche hätten Hunde
an der Leine und sagten, sie würden sie loslassen, wenn man nicht schnell
genug nach Bosnien zurückrennt. „Ich bin im Krieg geboren“, sagt Rafat,
„schauen wir zurück, sehe ich Krieg. Die Kroaten müssen verstehen, dass uns
der Tod nicht abschreckt, um in Sicherheit zu gelangen.“
Seitdem Ungarn 2016 eine Mauer baute und auch Serbien die Grenze und damit
die gewohnte sogenannte Balkanroute schloss, reisen immer mehr Menschen
über Albanien und Montenegro nach Kroatien, um es weiter in Richtung
Zentraleuropa zu versuchen. Doch für einige endet diese Entscheidung
tödlich. In der Nacht vom 11. auf den 12. Februar machten sich sieben
türkische Geflüchtete auf den Weg, die Grenze von Bosnien-Herzegowina nach
Kroatien zu überqueren.
## Namenlos verschwunden
Milo Javal lebt nur wenige Meter von der kroatischen Grenze entfernt. Er
will gesehen haben, wie maskierte Männer die Schutzsuchenden zwangen, sich
zu entkleiden, und sie dann in den Grenzfluss Glina trieben. „Das Wasser
ist fünf bis sechs Meter tief und etwa 20 Meter breit“, sagt er. „Die
Grenzpolizei schoss in die Richtung der Männer“, sagt Javal. Mehr konnte er
an diesem Abend nicht erkennen. Am nächsten Tag berichtete die bosnische
Lokalpresse, dass ein Mann tot geborgen worden war. Auf Anfrage bestätigte
ein Polizeiberater, dass die kroatische Polizei den Toten geborgen hatte
und die bosnischen Behörden damit keine weitere Auskunft über seine
Identität oder Todesursache geben könnten.
„So verschwinden Menschen schon seit Jahren namenlos im Fluss“, sagt Javal.
Er ist einer von Hunderten BosnierInnen an der Grenze, die Zeugen der
Gewalt werden. Immer wieder versorgt er verletzte Menschen, die nach einem
Pushback vor seinem Haus landen, erzählt er.
Javal hebt seine linke Faust in die Luft und klopft mit dem rechten
Zeigefinger seine Hand ab, um zu zeigen, wo die Stacheln auf der Eisenkugel
befestigt sind. Auch damit würden manche Grenzschützer gegen die Menschen
vorgehen, „wie im Mittelalter“. Manchmal trieben die maskierten Männer die
Fliehenden dann wieder aus dem kalten Wasser des Grenzflusses heraus,
setzten sie in einen grauen oder schwarzen Van und würden die Klimaanlage
auf die kälteste Stufe drehen, erzählt Javal.
Zurück auf der bosnischen Seite der Grenze bleiben viele Geflüchtete oft
tagelang verletzt in den Wäldern zurück. Laut lokaler Vorschriften dürfen
die Bosnier keinen Geflüchteten im Auto mitnehmen oder ins Krankenhaus
bringen.
Obwohl die Pushbacks ausreichend dokumentiert werden, blieben sie bis jetzt
meist folgenlos. In einer E-Mail beantwortet das kroatische
Innenministerium die Anfrage der taz für ein Interview mit der
Aufforderung, „Migranten über die legalen Wege der Einreise nach Kroatien“
zu informieren. Zudem weist das Innenministerium die mehrfachen
Behauptungen über das brutale Vorgehen der Polizei gegenüber Geflüchteten
„noch einmal vehement zurück“.
## Das Schild Europas
Seit Dezember 2018 unterstützt die EU-Kommission Kroatiens Grenzschutz mit
6,8 Millionen Euro. Davon sollten 300.000 Euro für die Einrichtung eines
Mechanismus zur Menschenrechtsbeobachtung verwendet werden. Vergangenen
Sommer gab die kroatische Regierung an, der UNHCR und das Croatian Law
Centre würden die Mittel erhalten und die Menschenrechtsbeobachtung
umsetzen. Beide Organisationen stellten allerdings klar, dass sie nichts
von dem Geld bekommen hätten.
„Ziel von Kroatien ist es, dass sie durch den Grenzschutz in den
Schengen-Raum aufgenommen werden“, sagt eine Mitarbeiterin des Border
Violence Monitoring Network. „Kroatien agiert als das Schild Europas, genau
wie Griechenland.“
Doch auch wenn die EU Kroatien dabei unterstützt, könnten die Pushbacks
diesem Ziel im Wege stehen. Vergangenen November kritisierten
Europaabgeordnete die Pushbacks an der kroatischen Grenze.
Ylva Johansson, die zuständige EU-Kommissarin, sagte bei einem Besuch in
einem bosnischen Flüchtlingslager, es sei „nicht akzeptabel, dass Menschen
verprügelt und zurückgedrängt werden“.
Im gleichen Zug betonte Johansson aber auch die hohen Erwartungen der
Europäischen Kommission an Bosnien und Herzegowina, damit das Land ein
aufstrebender Kandidat für eine EU-Mitgliedschaft bleibe.
Auch Milo Javal kann sich nicht vorstellen, dass diese apokalyptischen
Szenen von irgendwem gewollt sind. „Wie kann ich mich versöhnen mit einer
Welt, die das zulässt?“, fragt er. „Der Krieg ist hier seit 26 Jahren
vorbei. Als Soldat habe ich selbst so viele schlimme Dinge gesehen, jetzt
wiederholen sie sich jeden Tag vor meiner Haustür“, sagt er.
Kurze Zeit später bekommen wir eine Nachricht von Azeem Hasbib. „Ich habe
es geschafft. Ich bin in Kroatien. Beim 58. Mal hat es geklappt.“
26 Mar 2021
## LINKS
[1] https://drc.ngo/
[2] /Balkanroute-in-Bosnien-und-Herzegowina/!5715344
[3] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5747334
[4] https://www.borderviolence.eu/launch-event-the-black-book-of-pushbacks/
## AUTOREN
Franziska Grillmeier
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