# taz.de -- Koblenzer Prozess zu Folter in Syrien: Verbrechen mit System | |
> Die Anklage im „Al Khatib“-Prozess wurde aktualisiert. Sexualisierte | |
> Gewalt wird nun auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. | |
Bild: Der Hauptangeklagte Anwar R. im Gerichtssaal | |
BERLIN taz | Immer wieder haben die Rechtsanwälte Patrick Kroker und | |
Sebastian Scharmer im [1][„Al Khatib“-Verfahren vor dem Oberlandesgericht | |
Koblenz] ZeugInnen und Sachverständige gefragt: Hat es im Gefängnis | |
sexualisierte Gewalt gegeben? Kennen Sie Berichte darüber? Haben Sie es | |
selbst erlebt? Im November beantragten die beiden Anwälte, die mehrere | |
NebenklägerInnen vertreten, dass auch sexualisierte Gewalt als Verbrechen | |
gegen die Menschlichkeit angeklagt wird. | |
Die Bundesanwaltschaft stimmte zu, jetzt hat das Gericht entschieden. Es | |
hat die Anklage für das Verfahren, das am Mittwoch weitergeht, | |
aktualisiert. Damit wird sexualisierte Gewalt als systematisches Verbrechen | |
gegen die syrische Zivilbevölkerung behandelt. Bislang war dem | |
Hauptangeklagten Anwar R. zwar Vergewaltigung und sexuelle Nötigung | |
vorgeworfen worden – aber nicht nach dem Völkerstrafrecht, sondern nur als | |
Einzeltaten nach dem deutschen Strafgesetz. | |
„Die Veränderung der Anklage hat eine große Bedeutung, weit über diesen | |
Prozess hinaus“, sagt Leonie Steinl, Expertin für internationales | |
Strafrecht an der Berliner Humboldt-Universität. Oft sei es so, dass für | |
Folter und Tötungen einerseits und sexualisierte Gewalt andererseits | |
unterschiedliche Maßstäbe angelegt würden. | |
„Es wird nicht gesehen, dass auch sexualisierte Gewalt systematisch | |
angewendet wird, um die Bevölkerung zu terrorisieren“, so Steinl. Dahinter | |
stecke der alte Mythos von Vergewaltigung als Lustverbrechen einzelner | |
Männer, die eine Gelegenheit nutzen würden. | |
## Angeklagt wegen Folter in mindestens 4.000 Fällen | |
Anwar R. hat beim syrischen Geheimdienst gearbeitet, er war unter anderem | |
für das berüchtigte Foltergefängnis der Abteilung 251 verantwortlich, das | |
unter dem Namen Al Khatib bekannt ist. R. muss sich deshalb seit Ende April | |
vor Gericht verantworten, er ist wegen 58-fachen Mordes und Folter in | |
mindestens 4.000 Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung | |
angeklagt. Ein Mitangeklagter [2][ist bereits im Februar verurteilt worden] | |
– als erster Mitarbeiter des Assad-Regimes weltweit. | |
„Mit der Entscheidung konnte eine eklatante Lücke im Verfahren geschlossen | |
werden“, sagt auch Rechtsanwalt Kroker. „Jetzt spiegelt die Anklage noch | |
deutlicher das Ausmaß des Unrechts wider, das in den syrischen | |
Haftanstalten wie der Abteilung 251 herrscht und von dem mutige Zeugen wie | |
unsere Mandanten im Prozess immer wieder berichtet haben.“ | |
Der Nebenkläger Firas Fayyad hatte ausgesagt, dass ihm Wärter in Al Khatib | |
einen Stock in den After eingeführt hatten, Zeuginnen berichteten, wie | |
ihnen die Kleider vom Leib gerissen wurden, wie sie beschimpft und | |
begrapscht, wie Vergewaltigungen angedroht wurden. | |
Der syrische Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni, der in Damaskus selbst im | |
Gefängnis saß, sagte aus, dass sexualisierte Übergriffe in den Gefängnissen | |
wesentlich häufiger vorkommen würden, als öffentlich berichtet werde. Was | |
Fayyad erlebt habe, hätten „sehr, sehr viele Gefangene“ durchgemacht. | |
## „Ein wichtiges Zeichen“ | |
„Nicht zuletzt der Prozess hat gezeigt: Die syrischen Geheimdienste setzen | |
sexualisierte Gewalt systematisch als Waffe ein, um die Zivilbevölkerung zu | |
unterdrücken“, sagt auch die syrische Rechtsanwältin und | |
Frauenrechtsaktivistin Joumana Seif vom European Center for Constitutional | |
and Human Rights (ECCHR) in Berlin. „Für uns Syrer, für die vielen | |
Überlebenden und ihre Angehörigen ist es ein wichtiges Zeichen, dass dies | |
nun auch ein deutsches Gericht so behandelt.“ | |
Dieser Schritt könne die Betroffenen – Frauen wie Männer – stärken und | |
ihnen Hoffnung geben, anerkannt und gesehen zu werden. Überlebende von | |
sexualisierter Gewalt in Syrien, insbesondere Frauen, seien nicht nur von | |
den Taten als solchen betroffen, sondern würden oft diskriminiert und sogar | |
von ihren Familien verstoßen. Syrische ZeugInnen berichteten während des | |
Prozesses immer wieder von der schweren gesellschaftlichen Stigmatisierung, | |
die mit sexualisierter Gewalt einhergehe. | |
Wissenschaftlerin Steinl verwies unterdessen darauf, dass es auch beim | |
Internationalen Strafgerichtshof noch keine rechtskräftige Verurteilung von | |
sexualisierter Gewalt als Völkerrechtsverbrechen gebe. Allerdings gebe es | |
unter der Chefanklägerin Fatou Bensouda „eine deutliche Lernkurve nach | |
oben“. | |
24 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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