# taz.de -- Die Linke und der Krieg: Pazifisten und „Bellizisten“ | |
> Der Golfkrieg und der Jugoslawienkrieg waren für die Linke und das | |
> vereinte Deutschland eine Wegscheide. Dies zeigt ein Rückblick auf das | |
> Jahr 1991. | |
Bild: Wenige Tage vor Beginn des Golfkriegs: Demonstration am 12. Januar 1991 i… | |
Die Ankündigung war in den taz-Veranstaltungskalender irgendwie | |
durchgerutscht: 31. 1. 1991, Frankfurt: 20 Uhr Volksbildungsheim, | |
„Einspruch gegen die Irrationalitäten in der Diskussion um den Golfkrieg, | |
mit Diner, Claussen, Kugelmann, Stephan“. Das war keine der damals | |
angesagten „5-nach-12-Aktionen gegen den Golfkrieg“, sondern der (politisch | |
korrekt verkleidete) Einspruch der Vernunft gegen eine ganze Serie von | |
Kundgebungen, Blockaden von US-Depots, Frauenspektakeln, Menschenketten und | |
Mahnwachen, die im Winter 1991 unter weißen Bettlaken abgehalten wurden, | |
meist verziert mit dem blutroten Slogan „Kein Blut für Öl“. | |
An dem Abend im vollgepackten Volksbildungsheim ging es entsprechend hoch | |
her. Redner*innen, die nicht „gegen Krieg“ waren, wie der erregt im Saal | |
sitzende Grüne Udo Knapp, wurden als „Bellizisten“ beschimpft. | |
Die wir nicht waren. Weder verherrlichten wir den Krieg im Allgemeinen noch | |
„hetzten“ wir für diesen Krieg der internationalen Koalition unter Führung | |
der USA, die seinerzeit dem Aggressor Saddam Hussein in den Arm gefallen | |
war, als er Kuwait überfallen hatte und erklärte, Israel in ein Krematorium | |
verwandeln zu wollen. | |
Wir hatten gedacht, wenigstens Letzteres wäre Grund genug, sich schweren | |
Herzens an die Seite einer einstimmig im UN-Sicherheitsrat beschlossenen, | |
34 Staaten (unter Einschluss diverser arabisch-islamischer Nationen) | |
umfassenden Koalition gegen den notorischen Völkermörder zu stellen. Und | |
für den Fall, dass der nicht klein beigab, die von den Vereinten Nationen | |
beschlossenen militärischen Zwangsmaßnahmen (nach Kapitel VII UN-Charta) | |
auch zu ergreifen. Außerhalb Deutschlands, wo auch nicht gerade | |
Kriegsbegeisterung herrschte, reagierte man sensibler auf eine Annexion. | |
## Bazooka gegen Israel | |
Hierzulande begnügte man sich von der Staatsspitze bis in die | |
dunkelgrünsten Niederungen mit Scheckbuchdiplomatie. Friedensforscher | |
packten Ressentiments gegen Amerika aus – und [1][der Abgeordnete Christian | |
Ströbele] in Israel die Bazooka gegen Israel: „Die irakischen | |
Raketenangriffe sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik | |
Israels.“ | |
Die Großintellektuellen Walter Jens und Günter Grass brachten es auf den | |
Punkt, auch der [2][Doyen der Neuen Linken, Oskar Negt,] blieb dabei: Krieg | |
sei niemals die Lösung. Meinem Freund Andy Markovits wurde in einem | |
Briefwechsel immerhin zugestanden, bei ihm als Juden könne man ja verstehen | |
… | |
Wolf Biermann brachte auch meine Enttäuschung an diesem Abend auf den | |
Punkt: „Bindet eure Palästinensertücher fester, wir sind geschiedene | |
Leute.“ Der radikalen Linken war seit dem Sechstagekrieg, spätestens seit | |
1973 das Koordinatensystem verrutscht, die bis dahin geltende Solidarität | |
mit Israel war einem blinden und wütenden Antikolonialismus gewichen. | |
Auf einem weiß-roten Transparent wurde ich an meiner Uni zur Persona non | |
grata erklärt, weitere Bettlaken propagierten „Kein Blut für Öl“. Die | |
Kollegen, die mir den Mund verbieten wollten, kümmerten mich weniger als | |
die Haltung der Studierenden zum Golfkrieg. Von ihnen hörte ich weit | |
differenziertere Argumente, natürlich auch gegen die Kriegführung im Irak, | |
die namentlich nach Nine Eleven im Zweiten Golfkrieg unheilvoll eskalierte. | |
## Aus einem Pazifismus heraustreten? | |
Die Episode steht für mehr. Das Jahr 1991 – wenige Monate später stellte | |
der Jugoslawienkrieg die nächste Bewährungsprobe – war eine Wegscheide | |
nicht allein für die Linke, sondern das gerade vereinte Deutschland | |
generell. Würde man aus einem Pazifismus heraustreten können, der sich die | |
Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und von „Auschwitz“ | |
abstrakt-prinzipialistisch und auf eine oft ganz schräge Weise | |
(Bagdad/Belgrad = Dresden) zu eigen gemacht hatte? | |
Darüber sind langjährige Genossen getrennte Wege gegangen, haben sich | |
Freundschaften erledigt und sind einige als „Bellizisten“ Angegriffene wie | |
Henryk Broder und Cora Stephan in eine bis heute anhaltende Trotzreaktion | |
verfallen. | |
Auch die Grünen hat die Frage, ob es in einer ungerechten Welt gerechte | |
Kriege geben könne, fast zerrissen, man erinnere sich an den Farbbeutelwurf | |
gegen Außenminister Joschka Fischer. Der verstand im Kosovokrieg die alte | |
Gleichung „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg“ so, dass man nach dem | |
Völkermord in Bosnien partout verhindern müsse, dass sich Ähnliches im | |
Kosovo wiederholte – notfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates. | |
Darin stimmte er übrigens mit dem damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan | |
überein: „Die Entscheidung für meine Zustimmung war mir schwergefallen, | |
aber ich fand, dass es nach der Erfahrung von Ruanda und Bosnien keine | |
leichten Antworten mehr gab.“ | |
## Äquidistanz zu George Bush und Saddam Hussein | |
30 Jahre später, und das heißt: nach zum Teil erfolgreichen, aber auch | |
dramatisch gescheiterten Interventionen im Mittleren Osten, vor allem aber | |
nach dem Unterbleiben von solchen, die besser erfolgt wären (wie in | |
Syrien), gibt es weiter keine leichten Antworten. Jetzt wird geraunt, mit | |
dem Neo-Atlantiker Joe Biden blühe uns die „Übernahme von Verantwortung“. | |
Was heißt das aber? | |
Wir scheitern schon daran, eine Erdgaspipeline zu kappen, auch wenn deren | |
Nutznießer einen Giftanschlag gegen Oppositionelle begangen haben oder | |
decken. Und führen Israel gegenüber zur [3][Verteidigung der | |
Meinungsfreiheit des BDS] einen Affentanz auf, selbst wenn die Grenzen | |
zwischen Antizionismus und Antisemitismus fließend werden und der sein | |
mörderisches Gesicht wieder zeigt. | |
1991 herrschte von der Kohl-Regierung bis zur Friedensbewegung fast | |
Äquidistanz zu George Bush und Saddam Hussein; die Infusion des | |
DDR-Antifaschismus in das vereinte Deutschland verstärkte eine | |
weitverbreitete Aversion gegen den Westen und nährte einen | |
nationalistischen Neutralismus, damals vor allem beim Kanzlerkandidaten | |
Oskar Lafontaine. | |
Im identitär unterfütterten Postkolonialismus setzt sich heute – unbewusst, | |
aber kaum belehrbar – die blinde Solidarität mit einer „Dritten Welt“ fo… | |
deren „heroische“ Seiten (Algerien, Kuba, Vietnam, Simbabwe, Kampuchea …) | |
längst pervertiert sind und deren nun religiös gewandeter Schrecken | |
(al-Qaida, IS …) weitgehend ignoriert wird. | |
Heide Platen, die taz-Reporterin im Volksbildungsheim, zitierte den damals | |
überhörten Hinweis der Ägypterin Cherifa Magdi darauf, wer die Hauptopfer | |
dieses Krieges waren: die Palästinenser, die sich in ihrer Verzweiflung mit | |
dem Schlächter Saddam Hussein solidarisch erklärten, nachdem kurz zuvor in | |
Tel Aviv noch 400.000 Menschen für deren Selbstbestimmungsrecht auf die | |
Straße gegangen waren. | |
12 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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