# taz.de -- Privatisierung öffentlicher Räume: Protest mit Knete | |
> Umkämpfter Stadtraum: In Berlin gibt es Arbeiten von Künstler*innen | |
> wie Amelie von Wulffen und Aktivist*innen aus den 1990er Jahren zu | |
> sehen. | |
Bild: Blick in den Ausstellungsraum mit Videoprojektion | |
Wer erinnert sich noch an die Infobox? Knallrot und quaderförmig stand sie | |
von 1995 bis 2001 in direkter Nachbarschaft zur Großbaustelle am Potsdamer | |
Platz. Von ihren Stelzen aus überwachte sie deren Voranschreiten und | |
versinnbildlichte gleichsam den Bauwahn im Berlin der 1990er. | |
Da gab es noch die sogenannte leere Mitte, von der so viele etwas abhaben | |
wollten. Nicht nur Baukräne, sondern auch die Privatisierung öffentlicher | |
Räume fraß sich in jenen Jahren durch die Stadt und mit ihr Prozesse der | |
Verdrängung gegen alle und alles, was der Verwertungslogik entgegenlief. | |
Der Protest wiederum, der sich dagegen formierte, brachte Personen | |
unterschiedlichen Hintergrunds zusammen. Es bildeten sich Allianzen | |
zwischen Künstler*innen, Stadttheoretiker*innen und | |
Aktivist*innen, die eine neue gemeinsame Sprache fanden. | |
## Neue Dokumentation | |
Von diesen würde eigentlich gerade, wenn sie denn offen wäre, die [1][Schau | |
„Stadt und Knete. Positionen der 1990er Jahre“] im Berliner | |
Ausstellungsraum after the butcher erzählen, mittels kollektiv produzierter | |
Kunst, Zeitschriften und Knetgummi-Animationen – von denen eine der Infobox | |
gewidmet ist. Auch ein neues dokumentierendes Video „Kollektive | |
Erinnerungen“ entstand dafür. Es liefert den nötigen Kontext für alle zu | |
spät Geborenen, Zugezogenen oder Nicht-Berliner*innen. | |
Öffentlicher Raum heiße heute etwas anderes als damals, 1997, ist dort | |
unter anderem zu erfahren: Draußen sein, rumhängen, das ziellose | |
Sich-aufhalten-Können – diese Qualität des öffentlichen Raums sei abhanden | |
gekommen, verschwunden mit den tatsächlichen öffentlichen Räumen, die | |
ersetzt wurden von den scheinbaren, Malls etwa. | |
Die Stimme, die das im Video so einleuchtend erklärt, gehört dem Autor, | |
Kurator und Dozenten Jochen Becker. Er war in den 1990ern Teil jener Gruppe | |
von Menschen aus dem Kunstumfeld, die sich mit Aktivist*innen | |
zusammentaten. | |
## Aus Fotografien und anderen Dokumenten montiert | |
Den Film hat die Künstlerin Ina Wudtke, die gemeinsam mit Thomas Kilpper | |
und Franziska Böhmer after the butcher betreibt, aus Fotografien und | |
anderen Dokumenten montiert und mit Kommentaren von damaligen | |
Akteur*innen unterlegt – neben Becker kommen die Künstlerin Ariane | |
Müller und der Jurist Dietrich Steinhof zu Wort. | |
Er liefert gewissermaßen die Fußnoten zur Schau, die wiederum begleitend | |
zur Einzelausstellung von [2][Amelie von Wulffen] in den [3][KW Institute | |
for Contemporary Art] entstand, denn auch von Wulffen war damals maßgeblich | |
beteiligt. | |
Beide Ausstellungen sind derzeit aus bekannten Gründen geschlossen. Die in | |
den KW immerhin konnte so weit verlängert werden, dass man sie | |
wahrscheinlich irgendwann physisch und nicht nur [4][per Videorundgang] | |
besuchen können wird. Auch „Stadt und Knete“ wurde [5][ins Digitale | |
erweitert] und bereits verlängert. Am 7. März muss sie aber abgebaut | |
werden. | |
## Städtischer Raum in der Nachwendezeit | |
Umso mehr empfohlen sei daher [6][das Gespräch zur Schau] mit Wudtke und | |
Kilpper, KW-Assistenzkuratorin Kathrin Bentele und der zum Thema Raum in | |
der Nachwendezeit und transdisziplinären Künstler*innen-Gruppen forschenden | |
Kunsthistorikerin Annette Maechtel. Die KW übertragen es am Donnerstag per | |
Zoom. | |
Auch „Kollektive Erinnerungen“ wird dort gezeigt. Und einer der sogenannten | |
A-Clips – experimentelle Videos, die kurz genug waren, zwischen die Werbung | |
im Vorprogramm von Kinos geschmuggelt werden zu können: „Egoland“ aus dem | |
Jahr 1977, 55 Sekunden lang. | |
In „Kollektive Erinnerungen“ kann man auf einer Fotografie von Wulffen | |
sehen, wie sie gerade an einem aus Knetgummi geformten U-Bahn-Eingang | |
letzte Hand dafür anlegt. Ein niedlich knubbeliger Treppenabgang ist es, | |
der sich im Film jedoch als recht hinterlistig herausstellt: Als Symbol für | |
die fortschreitende Privatisierung von Orten in der Berliner Innenstadt | |
verweigert er den Zutritt. | |
## Malerische Auseinandersetzung mit der Familengeschichte | |
Amelie von Wulffen beschäftigt sich mittlerweile mit anderen Themen. Mehr | |
oder weniger deutliche Bezüge zwischen den frühen für die Ausstellung bei | |
after the butcher ausgewählten und den späteren in den KW gibt es aber sehr | |
wohl. Und politisch sind schließlich auch ihre jüngeren malerischen | |
Auseinandersetzungen mit Familiengeschichte und deutscher Erinnerungskultur | |
zu verstehen. | |
Interessant ist „Stadt und Knete“ aber noch darüber hinaus. Vor allem die | |
Videos aus den 1990ern wurden bislang kaum gezeigt, was auch an den vielen | |
Händen liegt, die an ihrer Entstehung mitwirkten und Fragen der | |
Urheberschaft verkomplizieren. Raritäten sind es, die wie Zeitkapseln | |
wirken und Fenster in die Diskurse von damals öffnen, Diskurse, die sich | |
inzwischen rasant weitergedreht haben. | |
17 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.after-the-butcher.de/ | |
[2] /Kuenstlerin-Amelie-von-Wulffen-in-Bern/!5600475 | |
[3] http://www.kw-berlin.de | |
[4] https://www.kw-berlin.de/amelie-von-wulffen/ | |
[5] https://www.after-the-butcher.de/aktuell/ | |
[6] https://www.kw-berlin.de/gespraech-mit-annette-maechtel-ina-wudtke-thomas-k… | |
## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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