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# taz.de -- Diskurs in der Pandemie: Zeit für Radikalität
> Nach einem Jahr Pandemie brauchen wir wieder eine Sprache, die
> Widersprüche zulässt. Und wir brauchen Streit über verschiedene Formen
> der Freiheit.
Bild: Ohne radikale Einschränkungen wird sich Freiheit als allgemeines Prinzip…
Ein Jahr Pandemie bedeutet auch ein Jahr Sprachlosigkeit. Am Anfang, im
Februar, März 2020, war es für viele vielleicht noch die Scheu vor der
eigenen Unwissenheit, das Staunen über die Katastrophe, das Spektakel
gesellschaftlicher Selbstverpuppung. Was sich damals aber etablierte, war
die Sprache des Vollzugs aufseiten der Politik und das Schweigen so vieler
anderer Stimmen, die fehlten und fehlen, um die Dimensionen der Pandemie
angemessen auszumessen. Die Folgen nun sind gravierend und bleibend,
fürchte ich, weil die Verkümmerung der Sprache mit der Verkümmerung des
Denkens und Handelns verbunden ist, was wiederum die Möglichkeitsräume
einer Gesellschaft extrem einengt.
Was die Mitte angeht, könnte man sagen, ist das wenig überraschend, denn
die ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts waren, in der Folge der
Anschläge vom 11. September 2001, eh schon geprägt von einem [1][Übermaß an
Sicherheitsroutine], Vollzugsdenken, Exekutivaktion – eine Schwächung der
parlamentarischen und diskursiven Aspekte von Gesellschaft, die sich in
dieser Pandemie besonders deutlich zeigt. Es fehlen die Momente gemeinsamer
Versicherung, was zu tun ist, was die Möglichkeiten und Alternativen sind –
in gewisser Weise zeigt sich hier die Mutation einer bestimmten Ausprägung
von neoliberaler Doktrin, die das Postulat der Alternativlosigkeit als
Vorwand der Abschaffung von Politik nutzte.
So also, und nicht anders. Da ist es dann auch egal, dass nach einem Jahr
Pandemie [2][die Schulen] immer noch auf dem Stand von 1985 sind, plus
Teams oder Itslearning. Da ist es egal, dass die Rede über das Leben auf
biologische oder ökonomische Aspekte schrumpft. Da ist es egal, dass eine
planlose [3][Hü-und-hott-Politik] eine Legitimationskrise des
demokratischen Systems bewirkt. Da ist es egal, dass immer noch so
schleppend geimpft wird, dass die Kultur krankt, dass die Menschen kranken,
dass die Energie und die Empathie aus der Gesellschaft verschwinden. Es
geschieht, was geschehen muss.
Was verloren geht, sind ein paar grundsätzliche Erkenntnisse: Wissenschaft
etwa ist eine Methode, kein Ergebnis – „listen to the science“ macht also
nur bis zu einem gewissen Grad Sinn, die Diskussion über virologisch
notwendige Maßnahmen findet in einem Feld von Erkenntnissen statt, die sich
konstant neu formen. Dieser Zweifel, diese Skepsis, diese
Erkenntnisoffenheit ist wesentlich für Wissenschaft – sie steht der
Kommunikations- und Handlungslogik der Politik entgegen und auch der Logik
der Medien, die Richtung, Helden und Geschichten suchen, die einen Anfang
und ein Ende haben.
Die Wirklichkeit aber lässt sich nicht so sortieren – hier gerät der
kommunikativ-politische Komplex an seine Grenzen, hier wäre der Ort für
eine Sprache, die die Widersprüche nicht nur aushält, sondern formuliert,
fordert, zu Tage fördert, eine Sprache, die Raum gibt für Schmerz und
Sehnsucht, für Angst und Verlust, für Hoffnung aber auch und für die
Schönheit, die doch nicht verschwunden ist, einfach so.
Aber wo findet diese Sprache statt, jenseits des Vermeldens? Wo findet die
Debatte statt über die Erfahrungen, Veränderungen, das Leben jenseits von
Tod und Verboten? Wo ist die Reflexion über grundlegende Ideen dieser
Gesellschaft, die so lange im Schatten waren? Ein Entwurf von
Gerechtigkeit, der aus dem Zwang der Pandemie eine Vision schafft für eine
Gesellschaft, die nicht schlechter ist als vorher, sondern besser? Wo ist
der Streit über die verschiedenen Formen von Freiheit, ein Begriff, der so
lange reduziert wurde auf einen abstrakten, von historischen oder sozialen
Gegebenheiten befreiten Kern – könnte nicht Freiheit, wie der
Verfassungsrechtler Christoph Möllers es formuliert, sehr viel kollektiver
gedacht werden und damit inklusiver und gerechter?
Wo ist also, um es konkret zu sagen, jenseits einer anderen Sprache,
Durchlässigkeit, Weichheit eine dezidiert linke Position, die über die
Frage von Lockdown: Ja, nein, kurz, lang, hart, nicht hart hinausgeht? Eine
Position, die die Herausforderungen für Aspekte von Gerechtigkeit
konstruktiv angeht, die eine Veränderungsoption für andere Formen von
Marktlogik sieht, die andere Prioritäten genau in diesem Moment vertritt,
die offen ist für Technologie und technologisches Denken, wie es etwa
Audrey Tang in Taiwan aufzeigt, die zentral die Diskussion führt, die die
Linke vor so langer Zeit aufgegeben hat, die Diskussion eben über diesen
Begriff von Freiheit, die in der Pandemie besonders neu gedacht und
gedeutet werden kann.
Denn die Freiheit verbindet sich eben, das zeigt die Pandemie, nicht nur
mit Verantwortung – etwa anderen Menschen, anderen Generationen,
zukünftigen Generationen gegenüber; mit Kausalität – was zum Beispiel die
Verbindung von Klimawandel und Corona angeht; mit Einschränkungen – denn
ohne diese Einschränkungen und Veränderungen, radikal und grundsätzlich,
wird sich Freiheit als allgemeines Prinzip kaum umsetzen lassen. Diese
Einsicht verbindet die Coronasituation auch mit der Klimadebatte, die nicht
im Kern, aber doch wesentlich auch eine Freiheitsdebatte ist.
Die Pandemie ist, wie es auch die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 war,
eine Gelegenheit, konkret utopisch zu denken – einfach, weil die
Radikalität der Fragen eine Radikalität der Antworten ermöglicht, ja
eigentlich erzwingt. Sehr oft hört man nun: Es gibt keine Rückkehr zur
Normalität, also die Zeit vor der Pandemie. Gut! Gut in Vielem, weil Corona
ja genau die Schwachpunkte aufgezeigt hat, an denen die Gesellschaft schon
vorher, unter „normalen“ Bedingungen litt. Es wäre fatal, wenn diese Chance
zum grundsätzlichen Neudenken vergeben würde – und es sind die Parteien der
Veränderung, also nominell die linken Parteien, wo sich emanzipatorische
Solidarität und verantwortungsvoller Freiheitssinn mit innovativem Denken
und Handeln verbindet, die diesen Druck aufbauen müssten.
Aber welche Parteien sind das nochmal?
17 Feb 2021
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[1] /Kampf-gegen-Corona/!5725171
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[3] http://xn--H-und-hott-Politik-m6b
## AUTOREN
Georg Diez
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