# taz.de -- Kampf gegen Corona: Ein durchregiertes Land | |
> Die Coronamaßnahmen sind ein Problem für die Demokratie und verhindern | |
> gesellschaftliche Resilienz. | |
Bild: Kampf gegen das Corona-Virus: Parlamente und Zivilgesellschaft gehören e… | |
Als im März 2020 mit der Anordnung des ersten deutschlandweiten Lockdowns | |
die „Stunde der Exekutive“ schlug, war es kaum vorstellbar, dass daraus | |
[1][das Jahr der Exekutive] werden würde. Mit dem am 27. März in Kraft | |
getretenen Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage | |
von nationaler Tragweite erlaubte es der Bundestag der Regierung, ohne | |
Zustimmung des Bundesrates mit bundesweiter Gültigkeit Anordnungen zur | |
Eindämmung der Pandemie zu treffen. Sieben Monate, unzählige Verordnungen | |
und einen Lockdown später kann von einer „Außerordentlichkeit“ der | |
Machtaggregation keine Rede mehr sein. Regieren per Dekret ist im Jahr 2020 | |
[2][zu einem bedenklichen Normalzustand geworden]. | |
Problematisch dabei ist erstens: Demokratische Politik wird legitimiert, | |
indem Ideen in mehrstufigen Verfahren diskutiert, aggregiert und in den | |
politischen Prozess gegeben werden. Dieser Input-Dimension demokratischer | |
Legitimität steht die Output-Dimension gegenüber, denn legitimes Regieren | |
basiert auch auf der Lösung von Problemen – Politik muss „liefern“. In | |
Notsituationen kann die Output-Dimension die Input-Seite überlagern, um | |
effektiv eine unmittelbare Gefahr abzuwehren. Mittel- und langfristige | |
Legitimation muss vorrangig durch die Input-Seite, also durch Debatte, | |
Streit und Interessenabwägung hergestellt werden. | |
Wie mühsam die (Rück-)Verlagerung der Legitimation von der Ergebnis- zur | |
Einflussseite ist, zeigt sich in allen autoritären Systemen der Welt: | |
Rentenerhöhungen vor Wahlen etwa sind ein typisches Mittel, um Zustimmung | |
zur Übermacht der Output-Seite zu gewinnen und die Input-Seite als | |
irrelevant darzustellen. | |
Die zweite Frage ist die der Qualität der politischen Debatte und damit der | |
politischen Inklusivität. Demokratie ist nicht nur ein politisches System, | |
sondern in der Lebenswelt der Menschen tief verankert und basiert auf | |
partizipativen und wechselseitig verbindlichen Konsultationen von | |
Regierenden und Regierten. Je inklusiver diese Konsultationen und | |
Verflechtungen sind, umso demokratischer ist ein System – und umgekehrt. | |
## Gefahr der Entfremdung | |
Indem in der Coronapolitik auf angemessene Parlamentsdebatten sowie auf | |
zivilgesellschaftliche Mitsprache verzichtet wird, vergibt die Exekutive | |
eine wichtige Chance der Input-Legitimation und dünnt Netzwerke der | |
verbindlichen Konsultation bedenklich aus. Gesellschaftlicher Zusammenhalt | |
als Unterbau der Pandemiebekämpfung ist gerade jetzt notwendig, aber die | |
debattenarme Politik befördert Entflechtung und Entfremdung zwischen | |
Gesellschaft und Politik. | |
Das dritte Problem ist der Fokus auf Bewältigung statt Veränderung. Im | |
Frühjahr war häufig zu lesen, dass die Krise die Gesellschaft stärker, | |
widerstandsfähiger machen könnte. Das Zauberwort der Resilienz tauchte auf | |
wie eine Hoffnung auf eine positive Wende. Soziale oder gesellschaftliche | |
Resilienz gilt als die Fähigkeit von Kollektiven, Schocks und Krisen zu | |
bewältigen, sich an potenzielle Störungen anzupassen und langfristig | |
Veränderungen umzusetzen, die das Schadenspotenzial von Krisen vermindern | |
und die soziale Gruppe stärken. Resilienz ist also weit mehr als nur | |
Krisenmanagement. | |
Die Coronamaßnahmen zielen bislang auf die [3][Bewältigung der Krise] ab, | |
aber zusätzliche Intensivbetten und Überbrückungshilfen sind kaum | |
nachhaltig. Stattdessen wäre ein Fokus auf den zweiten und dritten Aspekt | |
von Resilienz, nämlich Anpassung und Transformation, notwendig. Dafür | |
braucht es Ressourcen und ein Konzept, das die Frage beantwortet, welche | |
Funktionen der Daseinsvorsorge auf welche Weise gefährdet sind. Die genaue | |
Identifikation dessen, was gefährdet ist, ist der Kern eines politischen | |
Resilienzkonzeptes. | |
Wie könnte also eine demokratisch inklusive Politik in Bezug auf die | |
Pandemie aussehen? Als erstes gehören Diskussion und darauf aufbauende | |
Entscheidungen zurück in den Raum der Legislative: Erst wenn in den | |
Parlamenten Argumente und Gegenargumente, Sonderfälle und Probleme | |
diskutiert wurden, können Maßnahmen mit der Tragweite von | |
Grundrechtseinschränkungen umgesetzt werden. Die Exekutive braucht einen | |
Spielraum für kurzfristige Reaktionen auf steigende Infektionszahlen oder | |
Engpässe in der Gesundheitsversorgung, aber die grundlegende Ausrichtung | |
der Maßnahmen muss im Parlament diskutiert und nicht erst nachträglich | |
gebilligt werden. | |
## Mehr zivilgesellschaftliche Kontrolle | |
Zweitens bedarf eine Politik im Krisenmodus nicht weniger, sondern mehr | |
zivilgesellschaftlicher Beteiligung. Auf dezentraler Ebene der | |
Bundesländer, Kreise und Städte könnten Corona-Bürgerräte die Maßnahmen im | |
lokalspezifischen Kontext diskutieren und Verbesserungsvorschläge | |
unterbreiten. | |
Drittens muss langfristiger Wandel auf nationaler Ebene durch einen | |
Bürgerrat angeschoben werden, dessen Funktion gesetzlich fixiert ist und | |
dessen Mitglieder ausgelost werden. Ein Bürgerrat zur resilienten | |
Gesellschaft hätte die Möglichkeit, jene Probleme zusammenzudenken, welche | |
die größten Herausforderungen der nächsten Jahre darstellen: Klima, | |
Pandemie, und Polarisierung der Gesellschaft sind nur einige der Themen, | |
die einer nachhaltigen Antwort bedürfen. | |
Die aktuelle Krise wird nicht zu mehr Resilienz führen, und sie kann die | |
gesellschaftliche Spaltung noch vertiefen, wenn der anhaltende | |
Verordnungsmodus der Exekutive das Geflecht gesellschaftlicher Bindungen | |
weiter ausdünnt. Ein nachhaltiger Umgang mit der Krise braucht das genaue | |
Gegenteil: gesellschaftliche Integration durch Verflechtung; breite, | |
kontroverse Debatte; komplexe Verhandlungen und die Repräsentation der | |
Vielfalt der Lebensrealitäten in den Entscheidungen. Das ist weniger | |
effizient als zügiges Durchregieren, und es ist anstrengend. Aber es ist | |
der Weg zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zu gesellschaftlicher | |
Resilienz. | |
15 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Susann Worschech | |
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