# taz.de -- Die Gefahren des digitalen Impfpasses: Zutritt nur für Gesunde | |
> Was passiert, wenn Gesundheit ausweispflichtig wird? Warum der digitale | |
> Impfpass zu einer verstärkten Biologisierung der Gesellschaft führen | |
> könnte. | |
Bild: Hier noch ganz altmodisch, künftig vielleicht digital: Impfpass | |
In den Schränken und Schubladen der Bürger lagert ein Dokument, dem man | |
lange Zeit kaum Beachtung schenkte: der Impfpass. Wenn man nicht gerade | |
seine Standardimpfungen auffrischen ließ, staubte das gelbe Büchlein | |
munter vor sich hin. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich mit diesem | |
Dokument auszuweisen. | |
Warum auch? Man hat ja einen Personalausweis. Allenfalls bei der Einreise | |
in ein westafrikanisches Land oder in Mittel- oder Südamerika, wo die | |
Gelbfieberschutzimpfung vorgeschrieben ist, musste man das Heft vorzeigen | |
(wobei die Zöllner häufig gar nicht nachfragten). Doch das könnte sich bald | |
ändern. Seit Wochen tobt ein Streit, ob man [1][künftig bei der Einreise] | |
neben seinem Reise- auch seinen Impfpass vorzeigen muss. | |
Die australische Fluglinie Qantas hat bereits angekündigt, nur noch | |
Passagiere mit einem Impfnachweis zu befördern. Tech-Konzerne wie | |
Microsoft, Oracle und Salesforce basteln an einem digitalen Impfpass. Und | |
in Los Angeles County können sich Bürger, die sich gegen Covid-19 geimpft | |
haben, ein elektronisches Impfzertifikat auf ihr iPhone laden. Nicht nur | |
bei der Einreise am Flughafen, auch in Cafés und Restaurants könnte der | |
Impfpass bald obligatorisch werden. | |
Dass man ein ärztliches Zeugnis, dessen Geschichte ins 19. Jahrhundert | |
zurückreicht, digitalisiert, ist nur konsequent, schließlich steht seit | |
Beginn des Jahres allen Versicherten [2][die elektronische Patientenakte | |
(ePA)] zur Verfügung. Bei aller Kritik an Datenschutz und Datensicherheit | |
kann es durchaus sinnvoll sein, dass ein Arzt im Notfall auf Patientendaten | |
zugreifen kann. Man muss nicht mühsam das gelbe Impfbuch suchen – die | |
Information ist elektronisch abrufbar. | |
Doch so praktisch die Digitalisierung des Impfpasses erscheint, so sehr | |
verstört der Gedanke, dass sich Bürger an allen möglichen Orten künftig mit | |
ihrer Gesundheit legitimieren müssen. Es macht schon einen Unterschied, ob | |
man den Impfpass nur beim Arzt vorzeigt oder auch in einem Café. Je mehr | |
Organisationen einen Impfnachweis verlangen, desto mehr bekommt dieses | |
Zertifikat den Charakter eines Passierscheins. | |
Dass mit der Immunisierung auch eine Biologisierung von Gemeinschaft | |
einhergeht, ist ein Trend, der schon seit einigen Monaten zu beobachten | |
ist. Die [3][Mitarbeiter der Fast-Food-Kette Subway] in einer Filiale in | |
Los Angeles werden täglich von einer Fieber- und Gesichtserkennung | |
gescreent, um keine Infektion einzuschleppen. Immer mehr Unternehmen setzen | |
auf Wärmebildkameras oder Stirnthermometer, um die Gesundheit ihrer | |
Mitarbeiter und Kunden zu checken. Wer Fieber hat, muss draußen bleiben. | |
## Bio-Macht des Staates | |
Wenn jetzt aber dieser Biologismus durch Impfpässe amtlich beglaubigt wird, | |
wird gewissermaßen die „Geschäftsgrundlage“ der demokratischen Gesellscha… | |
verändert: Die Zugehörigkeit zum – biologisch definierten – „Volkskörp… | |
hängt nicht mehr allein von wohl erworbenen Rechten ab, sondern von der | |
körperlichen Integrität des Einzelnen. Es macht die Impfzentren zu | |
Passbehörden. Der französische Philosoph Michel Foucault sprach in seinen | |
Vorlesungen von einer „Verstaatlichung des Biologischen“, einer „Bio-Mach… | |
des Staates, die die Körper regiert. | |
Abgesehen von der Masernimpfpflicht für Kinder und Erzieher war die | |
Gesundheit für die Teilhabe am öffentlichen Leben vor Corona eher | |
zweitrangig. Man konnte mit Fußpilz ins Schwimmbad gehen, vergrippt in | |
einem Konzertsaal sitzen oder todkrank in einen Flieger steigen, solange | |
man nicht völlig abgerissen aussah und ein gültiges Ticket vorzeigen | |
konnte. Man zog sich allenfalls böse Blicke des Nachbarn zu, wenn man das | |
Husten nicht in den Griff bekam. | |
Und ja: Vielleicht war diese Unbedarftheit auch fahrlässig, weil sich so | |
Viren munter in der Welt verteilen konnten. Doch jetzt, während der | |
Pandemie, wo an jeder Ecke der virologische Feind lauert, wird Gesundheit | |
plötzlich ausweispflichtig, schlimmer noch: wird Kranksein abgestempelt und | |
sozial geächtet. | |
Der französische Schriftsteller Bernard-Henri Lévy schreibt in seinem Essay | |
„Ce virus qui rend fou“, dass der „contrat social“ (Gesellschaftsvertra… | |
durch einen „contrat vital“ (Gesundheitsvertrag) ersetzt werde: Statt wie | |
bisher einen Teil seiner Einzelinteressen zugunsten des Allgemeininteresses | |
abzutreten, tauscht der Bürger seine Freiheit gegen eine | |
„Antivirusgarantie“ ein – und akzeptiert damit den Übergang vom Sozial- | |
zum Überwachungsstaat. | |
Wie schnell wir bereit sind, diesen Sozialvertrag aufzukündigen, beweist | |
die Debatte um Sonderrechte für Coronageimpfte: In der Hoffnung, das „alte | |
Leben“ zurückgewinnen, wird faktisch eine soziale Selektion betrieben: hier | |
die Geimpften, dort die Ungeimpften. | |
## Gleiches gleich behandeln | |
Wenn Bundesjustizministerin Christine Lambrecht behauptet, es gehe nicht um | |
Privilegien, „sondern um die Rücknahme von Grundrechtsbeschränkungen“, da… | |
hat sie einen zentralen Grundsatz des Rechtsstaates nicht verstanden: die | |
Gleichheit vor dem Gesetz. | |
Grundrechte heißen so, weil sie grundsätzlich für alle Bürger im Land | |
gelten. Der Grundsatz lautet: Gleiches darf nicht ungleich behandelt | |
werden. Wenn man Lockerungen für Geimpfte unter der Voraussetzung zulässt, | |
dass sie nicht infektiös sind, akzeptiert man nicht nur stillschweigend | |
eine Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften, sondern macht die | |
[4][Ausübung von Grundrechten von biologischen Merkmalen abhängig]. | |
Zugespitzt: Nur wer Antikörper hat, gehört zum Volkskörper. Damit macht man | |
etwas zu einem Differenzierungs- und Diskriminierungsmerkmal, was niemals | |
differenzierungsfähig sein darf: die Menschenwürde. | |
Den Staat hat es aus gutem Grund nicht zu interessieren, ob ein gesunder | |
oder vorerkrankter Mensch seine Dienste in Anspruch nimmt. Ein Mensch mit | |
Herpesviren darf genauso in ein öffentliches Schwimmbad wie ein | |
HIV-positiver Mensch. Ein privates Unternehmen wie ein Restaurant oder | |
Kinobetreiber darf nur bedingt Einlasskriterien erlassen. Erstens weil es | |
über die unmittelbare Drittwirkung an Grundrechte und zweitens weil es an | |
das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gebunden ist. | |
Welche Gesundheitsdaten dürfen Staat und Private abfragen? Wo hört | |
Infektionsschutz auf, wo fängt Diskriminierung an? Muss man sich künftig | |
ein medizinisches Unbedenklichkeitszeugnis ausstellen lassen, um am | |
öffentlichen Leben teilzunehmen? Was ist mit denen, die sich nicht mit | |
ihrer Gesundheit ausweisen können? | |
Als Sachsen-Anhalt 2012 sein Polizeigesetz ändern wollte, um Personen von | |
„Risikogruppen“ (gemeint waren Homosexuelle, Drogenabhängige und | |
Obdachlose) zwangsweise auf HIV oder Hepatitis zu testen, gab es in der | |
Öffentlichkeit einen Aufschrei. | |
## Corona codiert das Soziale um | |
Von Diskriminierung und Stigmatisierung war die Rede. Die Deutsche | |
Aidshilfe kritisierte das Gesetz als „völlig unverhältnismäßig“, weil es | |
Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und informationelle | |
Selbstbestimmung verletzen würde. Die Vorschrift wurde schließlich | |
gestrichen. | |
Knapp ein Jahrzehnt später werden Testungen nicht mehr als Eingriff | |
wahrgenommen, sondern als Privileg. Was zeigt: Corona codiert das Soziale | |
um. Womöglich würde man die Frage nach Zwangstests heute anders bewerten. | |
Das HI-Virus ist schließlich noch immer eine Pandemie. | |
In Singapur, das wegen seiner Kontaktnachverfolgung als Vorbild in der | |
Pandemiebekämpfung gilt, müssen Antragsteller auf eine | |
Daueraufenthaltserlaubnis einen negativen HIV-Test vorlegen. Wer | |
HIV-positiv und nicht mit einem Singapurer verheiratet ist, darf sich nicht | |
länger als 90 Tage im Land aufhalten. In dem autoritären Stadtstaat sind | |
vor zwei Jahren durch ein Datenleck Informationen von 14.200 HIV-Patienten | |
an die Öffentlichkeit gelangt. Namen, Adressen, Telefonnummern – alles war | |
im Netz einsehbar. | |
Das zeigt, wie heikel eine zentrale Speicherung sensibler Gesundheitsdaten | |
sein kann. Ein Visum für Staaten wie Russland oder Katar zu bekommen, wo | |
[5][die Einreise ähnlich restriktiv behandelt wird], ist für diese Menschen | |
nahezu unmöglich. Der gläserne Bürger ist am Ende nicht nur schutzlos, | |
sondern auch „papierlos“. | |
3 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /EU-Videogipfel-zu-Corona/!5745869 | |
[2] /Die-digitale-Patientenakte/!5711283 | |
[3] https://www.nytimes.com/2020/05/11/technology/coronavirus-worker-testing-pr… | |
[4] /Vorteile-fuer-Geimpfte/!5737557 | |
[5] /Corona-Beschraenkung-fuer-Unverheiratete/!5707016 | |
## AUTOREN | |
Adrian Lobe | |
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