# taz.de -- Italienische Linke über Kommunismus: „Eine linke Vision“ | |
> Vor 100 Jahren wurde die Kommunistische Partei Italiens gegründet. Elly | |
> Schlein, der neue Star der italienischen Linken, spricht über das Erbe | |
> der Partei. | |
Bild: Elly Schlein bei einer Wahlkampfveranstaltung Anfang 2020 in Modena | |
taz: Frau Schlein, vor hundert Jahren gründete sich die Kommunistische | |
Partei Italiens. Nach 1945 sollte sie als Partito Comunista Italiano (PCI) | |
zur mächtigsten kommunistischen Partei im Westen werden. Ist dieser | |
Jahrestag für Sie ein Grund zum Feiern? | |
Elly Schlein: Es ist ein wichtiger Jahrestag, und wir müssen die | |
Gelegenheit nutzen, um über die historischen Ereignisse und die Folgen auch | |
der Spaltung der italienischen Linken nachzudenken. Es ist klar, dass der | |
politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Kontext so anders war, | |
dass ich nicht versucht wäre, diese Ereignisse auf die heutigen | |
Verhältnisse zu übertragen. Ich bin auf eine Art sehr fasziniert von der | |
Geschichte des PCI – auch wenn ich selbst schon aus Altersgründen nie | |
Mitglied war. | |
Meine Generation hat ein Liebe-Hass-Verhältnis zu dieser Art von Politik | |
und Parteien: Ich kann schon mal nostalgisch werden, wenn ich an diese | |
Riesenorganisationen und ihre starke Verwurzelung in breiten Volksschichten | |
denke. Gerade der PCI hatte noch eine soziale Funktion, hat sich um seine | |
Leute gekümmert, ein gemeinsames Bewusstsein geschaffen und eine | |
Führungsschicht herangezogen, die wirklich um das Gemeinwohl besorgt war, | |
was heute leider sehr viel weniger der Fall ist in der Politik. Und obwohl | |
der PCI eine revolutionäre Partei war, ist er in Italien doch immer eine | |
Stütze der Demokratie gewesen – etwas, was wir gerade heute schmerzlich | |
vermissen. | |
Was vermissen Sie denn am meisten? | |
Den Internationalismus, den wir auf keinen Fall den Rechten überlassen | |
dürfen, die ihre Botschaft von Hass und Spaltung überall verbreiten, ob es | |
nun Trumps Mauer zu Mexiko ist oder [1][die geschlossenen Häfen von | |
Lega-Chef Salvini]. An einem privilegierten Ort, im Europäischen Parlament, | |
habe ich erleben dürfen, was es heißt, Europäerin zu sein, gemeinsam für | |
die Menschen und die Regionen zu kämpfen. Das ist meine große Hoffnung, | |
dass wir zusammen so stark werden wie unsere Gegner, die diese Vernetzung | |
schon lange betreiben. | |
Sie sind Vizepräsidentin einer Region, der Emilia-Romagna, rund um die | |
Stadt Bologna in Norditalien, die als Wiege des italienischen Kommunismus | |
gilt, das Land von Don Camillo und Peppone. Was ist davon geblieben? | |
Es gibt hier eine solide Verwaltungstradition, eine, die alle Teile der | |
Gesellschaft in den Dialog miteinbezieht. Das hat sich auch bewährt, als | |
wir als Erste in Europa die schrecklichen Folgen der Pandemie zu spüren | |
bekamen. Und ich bin sehr stolz darauf, hier adoptiert worden zu sein von | |
Menschen, die auch nach 40 Jahren nicht aufhören, nach Wahrheit und | |
Gerechtigkeit zu forschen, etwa was den faschistischen Anschlag auf den | |
Bahnhof von Bologna 1980 angeht, der 85 Menschen das Leben kostete. In der | |
Emilia-Romagna hat man Verschiedenheit immer als Reichtum verstanden, und | |
ich bin stolz, hier mit so viel Zustimmung zu meiner Person gewählt worden | |
zu sein. | |
Sie sind jetzt seit einem Jahr in der Regierungsverantwortung: Haben Sie | |
denn als kleine linke Liste überhaupt die Möglichkeit, die Dinge zu ändern, | |
oder gab es große Enttäuschungen? | |
Ich selbst komme aus der Partito Democratico, der PD, und weiß sehr genau, | |
warum ich ausgetreten bin. Enttäuschungen gibt es also immer und gab es vor | |
allem unter der Leitung von Matteo Renzi, [2][der auf so vielen | |
Politikfeldern die eigenen Leute verraten hat] und nun in der aktuellen | |
Regierungskrise sein zynisches Spiel weitertreibt. Und doch: Es war die | |
richtige Entscheidung, in die Regierung zu gehen. Das hat uns ja niemand | |
befohlen, wir waren freie Menschen und sind es jetzt auch noch. | |
Wir haben im Wahlkampf immer eine einfache Frage gestellt: Gibt es Bedarf | |
für ein neues Projekt, das zugleich sozial progressiv und ökologisch ist? | |
Braucht es eine Schnittstelle von Leuten, die aus der Parteipolitik kommen, | |
und denen, die in den sozialen Bewegungen engagiert sind, den „Sardinen“, | |
den Öko-Aktivist:innen und denen, die sich für die Migrant:innen | |
engagieren? Die Antwort war immer positiv. Auf den Plätzen ist schon | |
vereint, was in der etablierten Politik immer noch gegeneinander | |
ausgespielt wird: Greta Thunberg und Carola Rackete gehören zusammen! Und | |
dann haben wir dem PD den Vorschlag gemacht, gemeinsam den Vormarsch der | |
Rechten zu stoppen, aber das hat uns nie gereicht als Projekt. Wir wollten | |
auch eine gemeinsame Vision: ein Pakt für das Klima, ein Pakt für gute | |
Arbeit und der Kampf gegen Ungleichheit, insbesondere in der | |
Wohnungspolitik. Und das alles haben wir vor ein paar Wochen unterzeichnet. | |
Wenn alle nach ihren Bedürfnissen berücksichtigt werden, dann muss sich | |
niemand mit seinem Nächsten oder, schlimmer noch, mit dem anlegen, dem es | |
noch schlechter geht als ihm selbst. Wir haben viel Geld in die Hand | |
genommen und wir haben es nicht zuletzt denen gegeben, die von der Pandemie | |
am härtesten betroffen waren, den Saisonarbeitern zum Beispiel. Ist also | |
eine linke Verteilungspolitik in der Pandemie möglich in einer durchaus | |
heterogenen Koalition mit langen Diskussionen? Ja, das haben wir gezeigt. | |
Der Klimawandel lässt uns auch gar keine Zeit, auf eine absolute Mehrheit | |
zu warten: Die Wissenschaftler sagen, uns bleiben noch höchstens 11 Jahre. | |
Und lieber diskutiere ich die ganze Nacht mit dem PD, als die übelste | |
Rechte Europas passieren zu lassen. | |
Der PCI war immer stark bei den sozialen Rechten, sehr viel weniger | |
engagiert, ja konservativ, bei den Bürgerrechten. Ist die italienische | |
Linke da heute weiter? | |
Italien ist ein Land, in dem es großen Nachholbedarf gibt, was etwa die | |
Rechte von LGBTQI angeht oder die Gleichstellung der Geschlechter. Und das | |
stimmt auch für Teile der Linken, da fehlt es an Mut. Gleichzeitig haben | |
wir in der Pandemiekrise Hunderttausende Arbeitsplätze verloren und zwar | |
vor allem prekäre Arbeitsplätze, von Frauen und jungen Menschen. Es geht | |
nicht nur, wie uns Feministinnen, um formale Rechte, sondern um | |
wirtschaftliche Möglichkeiten. | |
Die italienische Nationalbank sagt, dass das BIP um 7 Prozent wachsen | |
würde, wenn wir bei 60 Prozent weiblicher Beschäftigungsquote ankämen. Eine | |
Linke, die ernstgenommen werden will, muss sich diesen Themen stellen, in | |
kohärenter Weise. Sie muss die Themen Kampf gegen Ungleichheit, Arbeit, | |
Klima zusammenbinden. Vergessen wir nicht: Der PD war die letzten 15 Jahre | |
lang [3][fast immer an der Regierung] und hat die Rechte der Migranten | |
nicht weitergebracht, kein modernes Staatsbürgerschaftsrecht eingeführt | |
etc. | |
Es war auch jetzt, vor wenigen Monaten, wieder sehr schwer, endlich das | |
Gesetz gegen die Homotransphobie zu verabschieden. Und die Linke muss | |
endlich begreifen, dass die diversen Thematiken ineinandergreifen: soziale | |
Ungleichheit, Bürgerrechte, Klima. Zum Beispiel beim Klimawandel sind es | |
doch weltweit die ärmsten Schichten, die den höchsten Preis zahlen, obwohl | |
sie die geringste Verantwortung für den Klimawandel tragen. Man kann über | |
die populistische Rechte sagen, was man will, aber eines hat sie: eine | |
Vision. Hierauf muss die Linke wieder mit einer eigenen Vision antworten, | |
nicht mit Schweigen oder Verzagtheit. | |
21 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Michael Braun | |
Ambros Waibel | |
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