# taz.de -- Pressefreiheit in Italien bedroht: Gefährliche Tendenzen | |
> Jüngste Fälle von Verleumdungsklagen gegen italienische Medien stehen in | |
> einer langen Tradition. Bei der RAI ist eher Unterwürfigkeit das Problem. | |
Bild: Vereint verleumden – Giorgia Meloni und Claudio Durigon | |
Einigermaßen perplex sei er gewesen, erzählt Stefano Feltri, Chefredakteur | |
der [1][Tageszeitung Domani], als am 3. März zwei Carabinieri in der | |
Redaktion auftauchten, ihrerseits „genauso perplex wie ich“. Die beiden | |
waren mit einem Beschlagnahmebeschluss angerückt, ausgestellt, um einen auf | |
der Domani-Website online publizierten Artikel herauszufordern, durch | |
den sich Claudio Durigon, Staatssekretär im Arbeitsministerium unter der | |
radikal rechten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, verleumdet sah. | |
Lächerlich war die Polizeiaktion in jeder Hinsicht, nicht nur, weil der | |
Kläger Durigon es nicht für nötig befunden hatte, seiner Klage den | |
beanstandeten Artikel beizulegen. Nicht nur, weil auch die Carabinieri es | |
offenkundig nicht schafften, den Text aus dem Internet herunterzuladen. | |
Nicht nur, weil in dem Artikel die unbestreitbare Tatsache dargelegt wurde, | |
dass Durigon in seiner Zeit als Funktionär des stramm rechten | |
Gewerkschaftsbundes UGL einen Mann bei der Gewerkschaft eingestellt hatte, | |
der kurz darauf wegen Erpressung verurteilt wurde, in einem Prozess, in dem | |
seine Mitangeklagten bekannte Mafiosi waren. | |
Chefredakteur Feltri ist allerdings nicht zum Lachen zumute. Denn | |
Verleumdungsklagen von Politiker*innen gehören mittlerweile zum Alltag | |
des Redaktionsgeschäfts. Im November 2022 war es Ministerpräsidentin Meloni | |
selbst, die Schadensersatz in Höhe von 25.000 Euro einklagte, weil sie sich | |
durch einen Domani-Artikel verleumdet sah, in dem ihr vorgeworfen wurde, | |
sie habe in der Frühphase der Coronapandemie einem Unternehmer und | |
Parteifreund bei dessen Maskengeschäften per Anbahnung nützlicher Kontakte | |
unter die Arme gegriffen. Die Verhandlung steht noch an. | |
Allerdings wäre es verfehlt, in diesen letzten Fällen den Beweis dafür zu | |
sehen, dass unter der seit Oktober 2022 in Italien regierenden Rechten die | |
Pressefreiheit unter Druck gerät. Es ist schlimmer: Die Unsitte der auf | |
Einschüchterung zielenden Klagen hat eine lange Tradition und wird einfach | |
fortgesetzt. | |
## Wieder mal verloren | |
Einer, der sich auf dieses Geschäft spezialisiert hat, ist [2][zum Beispiel | |
Matteo Renzi], in den Jahren 2013 bis 2018 Vorsitzender der gemäßigt linken | |
Partito Democratico, außerdem 2014 bis 2016 Italiens Ministerpräsident und | |
heute Chef der von ihm gegründeten Kleinpartei Italia Viva. | |
Vor einer Woche machte die Nachricht die Runde, dass Renzi – wieder einmal | |
– einen Rechtsstreit verloren hatte. Gleich 200.000 Euro hatte er von | |
Italiens führender Tageszeitung Corriere della Sera als Schadensersatz | |
verlangt, weil das Mailänder Blatt über die Ermittlungen gegen seine | |
Stiftung Open und über den Verdacht, über diese Stiftung sei illegale | |
Parteienfinanzierung gelaufen, berichtet hatte. | |
Nicht nur wurde Renzis Klage abgewiesen, die Richterin schrieb dem | |
Politiker auch noch ins Stammbuch, mit der Höhe seiner Forderung habe er | |
„eine abschreckende Wirkung“ gegen die Berichterstattung erreichen wollen. | |
Außerdem fand die Richterin es ungehörig, dass der Politiker „ein | |
Zivilgericht wie eine Art Geldautomat behandelt“ habe. | |
Noch stärker wollte Renzi bei Marco Travaglio hinlangen, dem Chefredakteur | |
der der Fünf- Sterne-Bewegung nahestehenden Tageszeitung Il Fatto | |
Quotidiano. 500.000 Euro Entschädigung sollte Travaglio berappen, weil er | |
sich bei einem TV-Interview an seinem Schreibtisch hatte abfilmen lassen, | |
während im Regal hinter ihm eine Klopapierrolle zu sehen war, deren Blätter | |
gut erkennbar mit Renzis Konterfei bedruckt waren. Doch nicht nur wurde | |
Renzis Klage abgewiesen – er wurde zudem noch seinerseits wegen Einreichung | |
einer willkürlichen Klage zur Zahlung von 42.000 Euro Schmerzensgeld an | |
Travaglio verdonnert. So geht es oft in den Verleumdungsverfahren gegen | |
Journalist*innen. Ihr Verband schätzt, dass zwei von drei Verfahren | |
schon im Vorermittlungsstadium niedergeschlagen werden, dass insgesamt 90 | |
Prozent mit Einstellung oder Freispruch enden. | |
## Zunehmende Selbstzensur | |
Doch im World Press Freedom Index der Reporters sans Frontières rutschte | |
Italien im Jahr 2022 vom 41. auf den 58. Platz ab, unter Hinweis auch auf | |
die zunehmende Selbstzensur, die dort die Journalist*innen angesichts | |
der Angst vor Verleumdungsklagen üben. | |
Klagen müssen dagegen die Journalist*innen des staatlichen TV-Senders | |
RAI nicht befürchten – weil bei ihnen die Selbstzensur System hat. Vor | |
allem die Nachrichtensendungen auf den Kanälen RAI1 und RAI2 sind zum | |
Meloni-Verlautbarungsfernsehen heruntergekommen, seit Italiens Rechte im | |
Oktober 2022 die Regierung übernommen hat. | |
So war es zum Beispiel, als sechs junge Männer im Februar vor einem | |
Gymnasium in Florenz zwei Aktivisten eines linken Schülerkollektivs | |
verprügelten. Die Schläger gehörten zur Azione studentesca, der | |
Schülerorganisation der postfaschistischen Meloni-Partei Fratelli d’Italia | |
– doch davon erfuhren die TV-Zuschauer*innen nichts. Verdruckst hieß es | |
dort bloß, „rechtsextreme“ junge Männer seien handgreiflich geworden, ihre | |
politische Provenienz blieb jedoch das Geheimnis der berichtenden | |
Journalist*innen (die – immerhin auch dies ein Eingeständnis – Melonis | |
Jungvolk dabei als rechtsextrem einstufen). | |
Und auch [3][bei der vorerst letzten Flüchtlingstragödie] verbogen die | |
RAI-Nachrichten die Realität bis hin zur Verfälschung. „In libyschen | |
Gewässern“ seien wahrscheinlich 30 Menschen ertrunken, meldete die RAI am | |
Sonntagabend, deshalb hätte die italienische Küstenwache gar nicht | |
eingreifen können. Beides stimmt nicht. Das Unglück ereignete sich weitab | |
von den libyschen Hoheitsgewässern, niemand hätte die italienische | |
Küstenwache an einem Einsatz gehindert. | |
Über solche Tendenzberichterstattung darf sich Meloni freuen, doch auch | |
hier – ebenso wie bei den Verleumdungsklagen – gilt, dass die Servilität | |
der RAI eine Tradition hat, die der italienischen Rechten zwar zugutekommt, | |
die sie aber keineswegs erfunden hat. Bis zum September 2022 wurde der | |
damalige Ministerpräsident Mario Draghi von denselben | |
Nachrichtenmacher*innen zum Halbgott stilisiert, die jetzt in Meloni | |
ihr neues Idol gefunden haben. | |
Für ihre treuen Dienste haben sie gute Gründe, denn schließlich ist ihre | |
Anstalt weniger Staats- als gleich Regierungsfernsehen: Laut Statut wird | |
die Senderspitze von der Regierung bestimmt. Da bleibt „Nähe“ nicht aus, | |
erst recht nicht gegenüber einer Regierung, in der der heutige | |
Kulturminister Gennaro Sangiuliano noch vor kurzem selbst Chefredakteur der | |
Nachrichten auf RAI2 war. | |
14 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-linke-Zeitung-Domani-in-Italien/!5711447 | |
[2] /Italienisches-Politmagazin-Report/!5835525 | |
[3] /Nach-Bootsunglueck-vor-Libyens-Kueste/!5921980 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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