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# taz.de -- Metropolen und die Coronakrise: Was bleibt von der Stadt?
> In der Krise könnte man Stadtplanungsfehler korrigieren. Doch neue Ideen
> bringen mehr Segregation. Und Abo-Modelle könnten sich offline ausweiten.
Bild: Manche finden es malerisch, viele nicht billig: die Innenstadt von Paris
Geschlossene Restaurants, leere Einkaufsmeilen, verwaiste Plätze – nicht
zuletzt wegen der Ausgangssperren findet sich in den dunklen Innenstädten
kaum eine Menschenseele. Mit dem Stopp des Nachtlebens kehrt plötzlich die
mittelalterliche Vorstellung von der Nacht als etwas Sinistrem zurück, als
wäre es unmoralisch, im Dunkeln auf die Gasse zu gehen.
Und während man versucht, das bisschen Beinfreiheit, das einem der Staat
noch lässt, mit fast schon schlechtem Gewissen – man könnte ja nicht
rechtzeitig zu Hause sein! – zu nutzen, um durch die pittoresk-leere Stadt
zu flanieren, fragt man sich, was aus diesem toten Raum eigentlich werden
soll, was von der Idee Stadt noch übrig bleibt, wenn das Virus eines Tages
weniger mächtig und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung durchgeimpft
sein sollte – wenn sich doch jede*r im digitalen Dorf schon so bequem
eingerichtet hat.
Hat das Modell der europäischen Stadt, welches Handel und Gewerbe, Kultur
und Verwaltung in den Zentren konzentriert, noch eine Zukunft? Braucht man
überhaupt noch Städte? Und wenn ja – wozu?
Seit Beginn der Epidemie hat eine beispiellose Stadtflucht eingesetzt.
Banken und Versicherungen ziehen reihenweise ihre teuren Büroflächen in den
Zentren ab und lassen sich in den Suburbs nieder. Städter tun es ihnen
gleich und ziehen in Scharen in die Vororte. Wer kann, nimmt Reißaus. In
der New Yorker Oberschicht war zu Beginn des Lockdowns vom boccaccioing die
Rede, in Anlehnung an den Schriftsteller Giovanni Boccaccio, der im 14.
Jahrhundert vor der Pest aus Florenz floh und in einem Landhaus sein
Meisterwerk „Decamerone“ schrieb.
## Schon vor Corona kehrte man New York den Rücken
Schon vor Corona kehrten 2.800 Menschen pro Woche New York den Rücken, doch
das Virus hat den Exodus nochmals beschleunigt. Airbnb, die
Zimmervermittlungsplattform für mobile und flexible anywheres (David
Goodhart), die ganze Häuserzüge zu Ferienanlagen machte und den Zorn der
Bewohner auf sich zog, hat sich auf die Vermietung von Landhäusern verlegt
und sich damit an die Börse gerettet.
Doch nicht jeder kann sich den Luxus leisten, mal eben für einen
Wochenendtrip auf die Hamptons auszufliegen oder im grünen
Schrebergartenidyll einen Roman zu schreiben. Zurück bleiben die, die nicht
im Homeoffice arbeiten können oder zu wenig verdienen, um aus ihren viel zu
kleinen Wohnungen ausziehen zu können: Pfleger, Polizisten, Feuerwehrleute,
Verkäufer, Kuriere – kurz: all diejenigen Berufsgruppen, die man gerne für
systemrelevant erklärt.
Dabei gäbe es so viel Entwicklungspotenzial: Man könnte leer stehende
Bürotürme zu Wohnungen umfunktionieren, bezahlbaren Wohnraum für Familien
schaffen, Autobahnen zu Spielplätzen und Radwegen umwidmen. Ideen dafür
gibt es längst. Doch ausgerechnet jetzt, wo sich die historisch
einzigartige Chance ergibt, die Planungsfehler der Vergangenheit zu
korrigieren und die Segmentierung von Städten zu überwinden, gewinnt eine
Idee an Oberhand, die genau dies zementiert: die 15-Minuten-Stadt.
So heißt [1][das Konzept des Sorbonne-Urbanisten Carlos Moreno], das gerade
in den Rathäusern von Portland bis Paris diskutiert und [2][teils auch
umgesetzt wird]. Der Name ist Programm: Bäcker, Supermärkte, Ärzte,
Apotheken, Schulen, Vereine, Arbeit – das alles soll in weniger als 15 Rad-
oder Gehminuten von der Wohnung erreichbar sein. Moreno plädiert für
[3][einen neuen „Chrono-Urbanismus“]: Der zermürbende Takt „Métro, boul…
dodo“ (Metro, Arbeit, Schlafen) soll der Vergangenheit angehören.
## Die Dorf-Stadt
Nun ist es ja ganz nett, wenn der rastlose Pariser den Patissier um die
Ecke entdeckt und mit dem E-Scooter zum Capoeirakurs düst. Und es ist auch
richtig, dass man Städte nicht mehr nur als Wohnmaschinen und
Produktionsanlagen imaginiert. Bloß: Das kleine Studio im 18. Pariser
Arrondissement muss man sich auch erst mal leisten können. Der Graben
zwischen den 15-Minuten-Städtern, die im Homeoffice arbeiten können, und
den 100-Minuten-Vorstädtern, die morgens dichtgedrängt in den
Virenschleudern von Bussen und Bahnen zur Arbeit pendeln müssen, wird in
der Coronapandemie noch mal größer.
Es ist schon seltsam, dass wir bei all den Lockerungsdebatten viel über die
Wiederöffnung von Läden und Restaurants reden, aber auffallend wenig über
die Offenheit von Städten und den Zugang zum öffentlichen Raum, dem ja
schon begrifflich die Offenheit innewohnt. Wenn also die Zukunft der Städte
nicht die Stadt, [4][sondern das Dorf ist] (was Moreno nicht sagt, aber
meint), dann bedeutet das mehr soziale Selektion und Segregation.
## Eine Krise des öffentlichen Raumes
Die Soziologin Jane Jacob schreibt in ihrem Klassiker „Tod und Leben großer
amerikanischer Städte“, dass Städte „Generatoren von Vielfalt“ seien.
Büros, Fabriken, Schulen locken Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft
an. Wenn diese Einrichtungen aber geschlossen sind, wenn die
Kontaktfunktion der Gehwege, wie Jacobs es nennt, wegen des Lockdowns außer
Kraft gesetzt ist, bleibt die Vielfalt auf der Strecke.
Die Coronakrise ist auch eine Krise des öffentlichen Raums – nicht nur,
weil sich die Menschen ins Private zurückziehen (Stichwort Cocooning),
sondern auch, weil dessen Nutzung beziehungsweise Zugang immer stärker
reglementiert wird.
Bars, Kneipen, Restaurants, Schwimmbäder, Bibliotheken, Kinos, Museen – für
immer mehr städtische Angebote muss man sich registrieren (so sie denn
geöffnet haben) oder sich, wie etwa in Italien, mit seiner Körpertemperatur
durch Fiebermessung als legitimer Kunde oder Mitarbeiter ausweisen. Wer
nicht angemeldet oder geimpft ist, muss draußen bleiben.
Der Autor David A. Banks spricht von der „Subscriber City“, einer Stadt,
die den Zugang über Abonnements reguliert. So wie im digitalen Raum müsse
man auch im physischen Raum für alle möglichen Dienste einen Account
anlegen. „Die Wände“, notiert Banks, „kommen nun aus dem Innersten des
Smartphones: Plattformen, die ‚online‘ gestartet sind, haben ihre Tentakel
auf unsere Autos, Häuser, Arbeitsstätten, Schulen und Straßen ausgeweitet.“
## Nur noch Amazon-Prime-Kunden bedienen
Schon heute würden Amazon-Prime-Kunden Rabatte bei der hauseigenen
Biosupermarkt-Kette Whole Foods bekommen. In Zukunft, so Banks, könnte die
Bodega um die Ecke den Kunden nur bedienen, wenn er einen
Amazon-Prime-Account hat. Je mehr der digitale Raum mit dem physischen Raum
verwoben ist, desto mehr privilegierte Zugänge könnten geschaffen werden.
Ganze Stadtviertel könnten für Abonnenten eines bestimmten Anbieters wie
Amazon Prime reserviert sein. Am Ende könnten auch im physischen Raum
geschlossene Ökosysteme entstehen, sogenannte Walled Gardens, wo lediglich
die Basisnutzung kostenlos ist.
Die Frage ist: Wem gehört die Stadt? Die Stadtverwaltung von Venedig hat
2019 eine Eintrittsgebühr für Tagestouristen beschlossen – als wäre die
Lagunenstadt ein Freizeitpark, als wäre der Canal Grande eine
Wildwasserrutsche. Die Gebühr sollte eigentlich schon im vergangenen Jahr
erhoben werden, um des Besucherandrangs Herr zu werden, doch weil die
Touristen ausblieben, entschied man sich dafür, die Bezahlschranke für den
öffentlichen Raum [5][erst 2022 einzuführen]. Man will schließlich auch
etwas daran verdienen.
## Dystopie eines musealen Europas
Die Dystopie eines musealen Europas, die der niederländische Schriftsteller
Ilja Leonard Pfeijffer in seinem Buch „Grand Hotel Europa“ entwirft, wirkt
in diesen Tagen realer denn je. Denn jetzt, wo die Besucherströme versiegen
und die Florentiner und Venezianer mal endlich ihre Stadt für sich hätten,
sind sie selbst im Lockdown gefangen – die Restaurants und Souvenirshops
können nicht mal mehr von der Geschichte leben.
Der Bürgermeister von Venedig, Luigi Brugnaro, [6][hat die Schließung der
Museen (unter anderem den Dogenpalast) bis zum 1. April verlängert] –
pünktlich bis zum Beginn der Touristensaison, was Oppositionspolitiker und
Direktoren derart verärgerte, dass manche fragten, ob das Kulturerbe
eigentlich nur für Touristen da sei. Doch werden die Touristen noch für ein
Disneyland bezahlen, das ohne die Krimskramsverkäufer und Gondolieri
vielleicht gar kein Disneyland mehr ist? Im besten Fall ist es eine Stadt,
die auf ihre Bewohner ausgerichtet ist. Im schlimmsten Fall ist es eine
historische Geisterstadt.
19 Jan 2021
## LINKS
[1] http://www.moreno-web.net/la-ville-du-%C2%BC-dheure-pour-un-nouveau-chrono-…
[2] https://www.theguardian.com/world/2020/feb/07/paris-mayor-unveils-15-minute…
[3] https://www.oecd-forum.org/posts/the-fifteen-minute-city-rethinking-urban-l…
[4] https://www.bbc.com/worklife/article/20201214-how-15-minute-cities-will-cha…
[5] https://edition.cnn.com/travel/article/venice-entry-fee-2022/index.html
[6] https://www.theartnewspaper.com/news/venice-mayor-museums-closure-row
## AUTOREN
Adrian Lobe
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