# taz.de -- Die Stadt nach Corona: Abstand halten und zusammenrücken | |
> Erst der Klimawandel, jetzt die Pandemie. Wie die Post-Coronastadt | |
> aussieht, wurde in Berlin nun erstmals in einem Stadtforum diskutiert. | |
Bild: Werden aus leeren Büros bald Wohnungen? | |
BERLIN taz | Städte, heißt es immer wieder, seien wahre Meisterinnen der | |
Anpassung. Sie reagieren auf Zuwanderung, auf den Klimawandel, warum sollen | |
sie also nicht auch auf Pandemien reagieren? Was aber, wenn eine Pandemie | |
die Stadt so sehr verändert, dass sie sich im Grunde neu erfinden müsste? | |
Für den Soziologen Heinz Bude ist die Pandemie schon jetzt eine Zäsur. | |
„Corona macht einen Schnitt mit der Gesellschaft der starken Individuen“, | |
sagt er. „Der Glaube, alles selbst richten zu können und sich auf niemanden | |
verlassen zu müssen, hat die Gesellschaft 40 Jahre geprägt. Jetzt entdecken | |
wir die Angewiesenheit auf andere.“ | |
Erst Abstand halten, dann zusammenrücken: Seine Diagnose hat der in Berlin | |
lebende und in Kassel lehrende Soziologe auf dem jüngsten Stadtforum | |
„Pandemie“ als Impuls vorgetragen. Auf Einladung von | |
Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel (Linke) diskutierten am | |
Montagabend erstmals Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis über | |
die Folgen von Corona für die Stadt von morgen und damit auch für die | |
Stadtentwicklungspolitik. Die beiden Leitfragen waren: Wie verändert die | |
Pandemie die Urbanität von Berlin? Und als Zweites: Wie wohnen und arbeiten | |
wir im neuen Normal? Verwaiste Büros, leere Busse, stattdessen volle Parks | |
und in der Wohnung das nervenaufreibende Nebeneinander von Homeschooling | |
und Homeoffice: Wird das bald vorbei sein, kehren wir also zurück zur | |
Normalität, wie wir sie kennen? Oder ist das tatsächlich das „neue Normal�… | |
Für die Stadtentwicklungspolitik sind das keine unwichtigen Fragen, denn | |
sie bedeuten, die richtige Balance zu finden zwischen einer graduellen | |
Anpassung an die Folgen der Pandemie und einer radikalen Neuausrichtung. | |
Mit Herausforderungen wie diesen hat auch Christina Geib zu tun. Die | |
Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM), deren Geschäftsführerin sie ist, | |
vermietet etwa 15.000 Gewerbeflächen. Viele Geschäfte haben wegen des | |
Lockdowns geschlossen. „Mit 20 Prozent unserer Gewerbemieter befinden wir | |
uns gerade in intensiven Gesprächen“, sagt Geib. Ziel sei es, Insolvenzen | |
zu vermeiden. | |
Was aber, wenn die Insolvenz nicht abzuwenden ist und die Geschäfte | |
dauerhaft leer stehen? Senatsbaudirektorin Regula Lüscher hat da eine Idee: | |
„Vielleicht denken die Wohnungsbaugesellschaften mal darüber nach, dass die | |
Erdgeschosszonen nicht mehr die Cashcows sind, sondern von den Mieterinnen | |
und Mietern genutzt werden können.“ Die „Frage der Gewerbemieten“, forde… | |
Lüscher, „muss ganz dringend auf die Tagesordnung“. | |
Auch Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) | |
findet, dass das Gewerbemietrecht „ganz oben auf die Agenda gehört“. | |
Uneinigkeit aber gibt es darüber, wer die Mindereinnahmen finanzieren soll. | |
Während die WBM weiter auf ihre Cashcow setzt, deutet Lüscher eine | |
Kehrtwende an. Auf die Frage nach einer Ankaufstrategie des Landes für | |
Gewerbeflächen antwortet sie: „Das ist die Frage nach den Mitteln. Das muss | |
mehr werden, auch wenn die öffentlichen Kassen jetzt leer sind.“ Etwas im | |
Nebel stochern die Expertinnen und Experten noch, wie es um die Zukunft der | |
Büroflächen nach der Pandemie geht. Zwar sagt Annamaria Deiters-Schwedt vom | |
Forschungsinstitut Empirica: „Wir haben den Trend zum Homeoffice. Wenn es | |
bei Firmen um zusätzliche Flächen oder den Bau eines neuen Firmensitzes | |
geht, überlegen sie das schon dreimal.“ | |
Andererseits sei sich die Immobilienwirtschaft derzeit aber noch uneins | |
über die Auswirkungen der Pandemie. „Nutzungen wie Logistik und Wohnen | |
kommen gestärkt aus der Krise heraus“, weiß Deiters-Schwedt. Allerdings | |
gibt es zwischen den Immobiliensparten durchaus Raum für Neues, betont | |
Deiters-Schwedt: „Die Umnutzung von Büros in Wohnungen ist möglich und | |
erprobt. Da gibt es gute Beispiele.“ | |
Eine Lehre des ersten Lockdowns war der Ansturm auf Parks zum Spazieren in | |
der unmittelbaren Nachbarschaft. Auch auf dem Stadtforum wurde die Idee der | |
„15-Minuten-Stadt“ bemüht, auch wenn sie so nicht genannt wurde. „Die | |
Fühlungsvorteile werden vielleicht noch enger“, ist Martin Gornig | |
überzeugt. „Wohnen, Konsum und Freizeit müssen wir noch viel mehr | |
zusammendenken.“ | |
„Wir haben uns gefreut, dass vor allem Freiräume in der Pandemie einen | |
großen Wert erfahren haben“, betont auch der Landschaftsarchitekt Christian | |
Werthmann – und sieht genau darin aber auch ein Problem. „Wenn wir die | |
Städte nachhaltig entwickeln wollen, müssen die Wohnungen kleiner werden. | |
Das steigert aber gleichzeitig die Ansprüche auf die Freiräume.“ Deshalb | |
müsse es auch mehr Platz für Gehwege und weniger Platz für Autos geben. | |
Mit den Pop-up-Radwegen hat Berlin immerhin schon mal gezeigt, dass | |
Stadtentwicklungspolitik schnell handeln kann. Auf der anderen Seite gilt | |
das Auto als „sicheres“ Verkehrsmittel im Vergleich zum öffentlichen | |
Nahverkehr bislang nicht als Verliererin der Pandemie. | |
Wie sieht die Post-Coronastadt aus, und wie muss die Politik reagieren? | |
Denn vielleicht ernüchterndsten Ausblick gab der jüngste unter den | |
Expertinnen und Experten. „Die gebaute Architektur ist bislang zu langsam, | |
um auf die Entwicklungen zu reagieren“, sagt der 1989 geborene Architekt | |
Florian Bengert. „Das New Normal sind die Entwürfe von gestern, die jetzt | |
zu Ende gebaut werden. Damit werden auch die Fehler von gestern zu Ende | |
gebaut.“ | |
Gerade weil man vieles nicht wisse, öffne das aber auch neue Räume. „Also | |
können wir auf die Suche gehen und experimentieren.“ Dabei, meint Florian | |
Bengert, werde es vor allem „räumliche Antworten“ auf die Pandemie geben. | |
Soziologe Bude dagegen setzt in erster Linie auf menschliche Antworten – | |
und zieht einen Vergleich zu den großen Hitzewellen in den USA, denen wie | |
in der Coronapandemie vor allem die Alten zum Opfer gefallen waren. „Es | |
waren die über 70-jährigen Singles, weil keiner nach ihnen geschaut hat. | |
Sie sind an der Isoliertheit und nicht an der Armut gestorben“, sagt Bude. | |
Eine gerechte Stadt, meint er, müsse auch eine solidarische Stadt sein. | |
„Sonst ist es eine kalte Stadt.“ Aber auch für Bude gibt es eine räumliche | |
Dimension: „Es geht nicht mehr darum, in die Welt vorzudringen, sondern | |
einen Ort zu haben. Das ist der Kern der neuen Stadt.“ | |
Zwingt uns Corona also eine neue Bescheidenheit auf? Bude sagt es so: | |
„Corona ist die Stadterfahrung als Erfahrung der Unvollständigkeit.“ Über | |
die coronabedingte Stadtflucht wurde am Montag nicht diskutiert. | |
19 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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