# taz.de -- Impfungen gegen Corona: Die Vergessenen | |
> Das Gesundheitsministerium betont, dass verletzliche Gruppen priorisiert | |
> werden. Doch für pflegebedürftige junge Menschen gilt das offenbar nicht. | |
Bild: Richard Bauer in seiner Berliner Wohnung | |
„Ich warte jetzt auf den Impfstoff, das ist die große Hoffnung.“ So hatte | |
es Richard Bauer [1][der taz im August gesagt]. Bauer lebt in Berlin mit | |
Muskeldystrophie Duchenne, einer seltenen Erkrankung, die auch das | |
Immunsystem schwächt. Eine Infektion mit dem Coronavirus ist für ihn sehr | |
viel gefährlicher als für den Bevölkerungsdurchschnitt. | |
„Ziemlich sicher mein Tod“, sagt der 30-Jährige. Nach der aktuell gültigen | |
Impfverordnung wird Bauer aber nicht bevorzugt geimpft. Viele jüngere | |
Menschen, die wie er mit Pflegebedarf im eigenen Zuhause leben, kommen in | |
der Impfverordnung schlicht gar nicht vor. | |
Menschen mit Behinderung in ganz Deutschland protestieren inzwischen | |
dagegen, eine Petition hat bereits rund 45.000 Unterschriften gesammelt. | |
„Offenbar denkt unser Gesundheitsminister, dass alle behinderten Menschen | |
im Heim leben“, sagt Alexander Ahrens, Geschäftsführer der | |
Behindertenselbstvertretung „Initiative selbstbestimmt leben“ (ISL). Nur | |
dann haben sie eine generelle Chance auf eine priorisierte Impfung. | |
Über die Frage, wer bei den Impfungen zuerst drankommt, wird seit | |
Inkrafttreten der [2][Impfverordnung] Mitte Dezember heftig diskutiert. | |
Sollten Hausärzt*innen nicht früher dabei sein oder Lehrer*innen und | |
Erzieher*innen? „Wir impfen zuerst die besonders Gefährdeten“ – wird | |
sowohl die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut als | |
auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht müde zu betonen. | |
Deshalb sind in der Impfverordnung, die auf den [3][Empfehlungen der Stiko] | |
basiert, Bewohner*innen und Personal von Pflegeheimen priorisiert. | |
Außerdem medizinisches Personal, das dem Virus besonders ausgesetzt ist, | |
und Menschen über 80, weil in dieser Gruppe die Sterblichkeit deutlich | |
erhöht ist. | |
Später folgen Menschen mit bestimmten Behinderungen, insbesondere Trisomie | |
21, sowie mit bestimmten Vorerkrankungen. Schließlich werden auch Personen | |
in „besonders relevanten Positionen“, etwa aus Politik und Polizei, sowie | |
Verkäufer*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen, prekär lebende oder | |
arbeitende Menschen berücksichtigt. | |
Richard Bauer und viele andere sind da nicht mitgedacht. „Wir sind die | |
Letzten, die geimpft werden sollen“, sagt Bauer. Für ihn würde das | |
bedeuten: Noch einmal mindestens ein halbes Jahr Bangen. Es sind nicht nur | |
seine Muskelerkrankung, die dauerhafte Beatmung und das geschwächte | |
Immunsystem, die ihn besonders gefährden. Er lebt mit insgesamt 12 | |
wechselnden Assistenten, die ihn rund um die Uhr begleiten und versorgen. | |
„Ich kann mich gar nicht isolieren“, sagt Bauer. | |
Bei einer Gesprächsrunde, die das Gesundheitsministerium vor einer Woche | |
einberief, konkretisierte Thomas Mertens, Leiter der Stiko, noch einmal die | |
Impfpriorisierungen: Zunächst kämen all jene mit einem hohen Risiko einer | |
schweren Erkrankung mit Todesfolge dran. | |
Aber warum tauchen dann Menschen wie Richard Bauer nicht in den | |
priorisierten Gruppen auf? Die Stiko, erklärt Mertens, mache ihre | |
Empfehlungen vor allem auf der Basis von Evidenzen. Das heißt: | |
Datengrundlage sind die Studien der letzten Monate, die beleuchten, wer ein | |
besonders hohes Risiko eines schweren Verlaufs von Covid-19 hat. Da tauchen | |
Menschen mit Volkskrankheiten wie Diabetes und Adipositas als gefährdete | |
Gruppen auf. Nicht aber Menschen mit seltenen Erkrankungen – weil sie | |
jeweils schlicht zu wenige sind. | |
Und dann, so Mertens in besagter Rederunde, folgen die Priorisierungen eben | |
auch dem Nutzenprinzip: Wen müssen wir jetzt impfen, um die Krankenhäuser | |
zu entlasten? Diese gesamtgesellschaftliche Betrachtung stehe im Zweifel | |
über dem Schutz des Individuums. | |
Deshalb wird ein Mensch mit Behinderung und/oder Pflegebedarf, der in einem | |
Heim lebt, priorisiert geimpft – weil ein Corona-Ausbruch hier schnell ein | |
ganzes Krankenhaus lahmlegt. Wenn aber Mertens sagt, dass auch Ethik und | |
Gerechtigkeit in die Impfpriorisierungen einfließen, bleibt immer noch die | |
Frage: Wurden Menschen wie Richard Bauer schlicht vergessen? | |
„Bei der Triage hat man uns jedenfalls mitgedacht“, sagt Jenny Bießmann vom | |
Beratungsverein akse e. V. Wenn sich die Lage so zuspitzt, dass zu viele | |
Kranke auf zu wenig Behandlungsplätze in den Kliniken treffen, dann müssen | |
Ärzt*innen Triage-Entscheidungen fällen. Darauf bereitet man sich in | |
Deutschland schon seit dem letzten Frühjahr vor. | |
Auch hierfür gibt es Empfehlungen, diesmal von acht medizinischen | |
Fachgesellschaften. Behandelt werden sollen demnach im Zweifel die, die | |
eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Die Kriterien, nach denen | |
dies beurteilt werden soll, diskriminieren behinderte und pflegebedürftige | |
Menschen, sagen Behindertenselbstvertretungen wie die ISL oder Ability | |
Watch. | |
Genau die Personen also, die bei der Triage im Zweifel eine geringere | |
Überlebenswahrscheinlichkeit zugesprochen bekommen, werden bei den | |
Impfungen nicht als besonders gefährdet betrachtet. „Das ist eine Ohrfeige | |
für diese Menschen“, sagt Jenny Bießmann, die selbst mit | |
24-Stunden-Assistenz in Berlin lebt und deren Verein Menschen mit | |
Assistenzbedarf berät. | |
„Dabei hätte man einfach Menschen mit hohem Pflegebedarf in die | |
priorisierten Gruppen aufnehmen können, das wäre logisch und gar nicht | |
kompliziert gewesen.“ Jeden Tag riefen Betroffene bei akse e.V. an und | |
fragten nach der Impfung, so Bießmann. „Die können gar nicht fassen, dass | |
sie jetzt nicht bald geimpft werden.“ | |
Wie dramatisch die Situation im Zweifel werden kann, zeigt die Erzählung | |
von Harry Hieb. Auch der Physiker aus Baden-Württemberg lebt mit einer | |
seltenen Muskelerkrankung. Auch er wird von wechselnden Assistenten rund um | |
die Uhr zu Hause betreut. Um Weihnachten herum war einer von ihnen stark | |
erkältet, einen Ersatz für den Assistenten gab es nicht. „Ich musste ihn | |
kommen lassen, ich hatte keine Wahl“, sagt Hieb. | |
Es waren schlimme Tage voller Angst, die er nicht noch einmal erleben | |
wolle. Deshalb hatte sich Hieb bei seinem Arzt ein Attest geholt und sich | |
online zur Impfung angemeldet. Vergangenen Freitag war der Termin. „Sie | |
haben mich weggeschickt“, sagt Harry Hieb. Er musste damit rechnen. Er ist | |
für die Impfung nicht vorgesehen. | |
Es sind nicht nur die besonders Gefährdeten selbst, denen das so geht. | |
Anders als in Heimen oder bei Pflegediensten angestellte Pflegekräfte sind | |
auch die Assistent*innen, die Menschen wie Harry Hieb, Jenny Bießmann oder | |
Richard Bauer betreuen, in der Impfverordnung nicht erwähnt. Ganz so, als | |
wäre dieses Modell, mit dem Menschen mit Behinderung und hohem Pflegebedarf | |
selbstbestimmt zu Hause leben können, in den Köpfen der Politiker*innen | |
nicht angekommen. | |
Jenny Bießmann hat schon überlegt, ihre Assistentinnen kurz vor Feierabend | |
zu einem Impfzentrum zu schicken. Wenn dann noch Impfdosen vom Tag übrig | |
sind, die sonst entsorgt würden, gäbe es vielleicht die Chance auf eine | |
Impfung. Aber das wäre Glücksspiel und keine Lösung, ist außerdem kaum | |
praktikabel. Selbst nicht geimpft, Assistentinnen nicht geimpft: „So bleibt | |
mir nur die Angst“, sagt Bießmann. | |
Bald werden 50.000 Menschen die Petition unterschrieben haben, die die | |
Politik und die Stiko auffordert, alle Menschen der Hochrisikogruppen in | |
die Impfgruppe 1 oder 2 aufzunehmen – unabhängig von dem Ort, an dem sie | |
Pflegeleistungen erhalten. | |
Und tatsächlich hat die Stiko inzwischen nachgebessert und in ihrer | |
aktualisierten Empfehlung einen Hinweis eingefügt: Auch Personen, die zum | |
Beispiel aufgrund einer seltenen Erkrankung besonders gefährdet sind, aber | |
nicht explizit genannt werden, könnten nach Ermessen der Verantwortlichen | |
in die jeweilige Priorisierungskategorie eingeordnet werden. | |
In Rheinland-Pfalz war zuvor bereits auf Druck einer betroffenen Familie | |
hin eine Einzelfallentscheidung in diesem Sinne gefallen. Das | |
Bundesgesundheitsministerium verweist auf Nachfrage nun selbst auf die | |
aktualisierte Empfehlung der Stiko. Die Frage, ob und wann auch die | |
Impfverordnung entsprechend geändert werden soll, lässt es dagegen | |
unbeantwortet. Die Bundesländer könnten in der Umsetzung der Impfverordnung | |
aber „praktische Erwägungen“ berücksichtigen, so eine Sprecherin. | |
Im Frühjahr war die Lage noch eine andere, erzählt Richard Bauer. Es sei ja | |
eine absolute Seltenheit gewesen, jemanden zu kennen, der sich mit dem | |
Coronavirus infiziert hatte. Aber jetzt werden es immer mehr, auch in | |
seinem Umfeld. „Die Einschläge kommen immer näher“, sagt er. Und fügt | |
hinzu: „Die Rettungsleine ist da. Ich sehe sie vor mir. Aber ich komme | |
nicht ran.“ | |
15 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Risikogruppen-und-die-Coronakrise/!5721996 | |
[2] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C… | |
[3] https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/02_21.pd… | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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