| # taz.de -- Medizinanwalt über Impf-Priorisierung: „Eine Fehlkonstruktion“ | |
| > Der Rechtsanwalt Oliver Tolmein vertritt PatientInnen, die auf ein | |
| > Aufrücken in der Impfhierarchie klagen. Er verlangt andere | |
| > Auffangklauseln. | |
| Bild: Nicht alle empfinden die Impfreihenfolge als gerecht | |
| taz: Was sind das für MandantInnen, die Sie wegen einer Priorisierung der | |
| Corona-Impfung vertreten, Herr Tolmein? | |
| Oliver Tolmein: Unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen | |
| Schicksalen, die aber eines gemeinsam haben: Sie brauchen dringend Schutz | |
| vor einer Corona-Infektion. Und sie sind Betroffene. Die Impfverordnung von | |
| Bundesgesundheitsminister Spahn ist ja merkwürdig aufgebaut: Sie führt in | |
| Paragraf 2, der den Zugang zu Impfungen mit höchster Priorität gewährt, | |
| Menschen nicht, die schwerwiegende Erkrankungen haben. Oder Menschen mit | |
| erheblichen Behinderungen, zum Beispiel mit stark geschwächtem Immunsystem, | |
| bei denen eine extrem hohe Gefahr besteht, dass sie einen sehr schweren | |
| Verlauf haben oder sterben. Stattdessen werden hier vor allem Pflegekräfte | |
| priorisiert. Die gefährdeten Menschen mit Behinderungen und schweren | |
| Erkrankungen erhalten bestenfalls eine „hohe Priorität“ für die | |
| Coronaschutzimpfung. Das ist eine Fehlkonstruktion. | |
| Hat die Novellierung der Impfverordnung die Situation nicht verbessert? | |
| Nein, im Gegenteil. In der ersten Fassung der Impfverordnung gab es eine | |
| Formulierung, die den Bundesländern in geringem Umfang Ermessen eingeräumt | |
| hat und damit die Möglichkeit, Ausnahmeentscheidungen zu treffen. Das ist | |
| geändert worden. Stattdessen gibt es jetzt in den Gruppen „hohe“ und | |
| „erhöhte Priorität“ Auffangklauseln. Aber in die höchste | |
| Priorisierungsstufe, um die es den höchst gefährdeten und schwerstkranken | |
| Menschen geht, kommen Sie so nicht hinein. Das zweite große Problem ist, | |
| dass sich Herr Spahn als Bundesgesundheitsminister angemaßt hat, eine | |
| Rechtsverordnung zu erlassen, die eine Priorisierung festschreibt. Dazu ist | |
| er aber nicht befugt, das wäre Sache des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber | |
| hätte möglicherweise eine durchdachtere Lösung beschlossen. | |
| In einigen Bundesländern sollen medizinische Kommissionen Härtefälle | |
| regeln. In Bremen ist die mit MedizinerInnen, MedizinethikerInnen und | |
| JuristInnen besetzt. Ist das eine sinnvolle Anlaufstelle für all | |
| diejenigen, die sich jetzt stattdessen an Anwälte wenden? | |
| In erster Linie brauchen wir ein gutes Gesetz. Dass einzelne Bundesländer | |
| Notbehelfsmaßnahmen ergreifen und dann nicht transparent zusammengesetzte | |
| Kommissionen ohne solide rechtliche Grundlage Entscheidungen treffen, ist | |
| möglicherweise besser, als es nicht zu tun. Aber es ist allenfalls der | |
| zweitbeste Weg. Außerdem: Mediziner, Medizinethiker, schön und gut – warum | |
| keine Vertretung von Menschen mit Behinderungen, von Patienten? Es ist | |
| nicht so, dass solche rechtlichen und ethischen Priorisierungsfragen | |
| medizinische Fragen wären. Es sind normative Fragen. Pluralismus und | |
| Diversität eines Gremiums wären hier wichtiger. | |
| Es haben inzwischen einige Menschen wegen einer Priorisierung ihrer Impfung | |
| geklagt – mit unterschiedlichen Ergebnissen. In Hamburg gab es erfolgreiche | |
| Eilanträge, in Berlin unterlagen sie. Ist das ausgewogener als die | |
| Entscheidung der Härtefallkommissionen? | |
| Gerichte sind zugegebenermaßen auch keine Gremien, in denen sich | |
| Pluralismus und Diversität ausreichend widerspiegeln. Gegen | |
| Gerichtsentscheidungen gibt es immerhin einen klar formulierten Rechtsweg, | |
| der ein gewisses Maß an Gerechtigkeit garantiert. | |
| Ihre MandantInnen sind Teil eines Prozesses, bei dem notwendigerweise den | |
| Impfstoff, den Sie erstreiten, jemand anderes nicht bekommt. | |
| Es ist nie schön, Mangel zu verwalten, und wir haben hier im Augenblick | |
| eine äußerst knappe, wertvolle Ressource, die verteilt werden muss. | |
| Angesichts dessen hat das Bundesgesundheitsministerium entschieden, | |
| einfache Kriterien zu wählen, damit es keinen großen Streit gibt. Dass aber | |
| die direkt besonders von Corona bedrohten Menschen – Patientinnen und | |
| Patienten mit schwersten Erkrankungen und Menschen mit schweren | |
| Behinderungen – später Schutz erhalten als Menschen, die zwar enorm | |
| wichtige Arbeit leisten, die aber in erster Linie mittelbar bedroht sind, | |
| ist meines Erachtens eine Fehlentscheidung – und entspricht auch nicht den | |
| Maßgaben des Paragrafen 20i im Sozialgesetzbuch V, der den Anspruch auf | |
| Schutzimpfungen regelt. | |
| Ist diese Einfachheit nicht notwendig, um ein Minimum von Akzeptanz für | |
| diese Mangelverteilung zu erreichen? | |
| Selbstverständlich ist es wichtig, nachvollziehbare und auch handhabbare | |
| Kriterien zu entwickeln. Es bedarf aber jedenfalls einer Öffnungsklausel, | |
| weil eine Verordnung nie so formuliert sein kann, dass sie die Vielfalt und | |
| Dramatik aller Fallkonstellationen gerecht erfassen kann. Dass es so eine | |
| Öffnungsklausel für die höchste Priorität nicht gibt, ist nicht | |
| nachvollziehbar und wird ja auch von Herrn Spahn nicht begründet. Das führt | |
| ja auch dazu, dass jetzt geklagt wird. Das Signal, das von diesen Klagen | |
| ausgeht, ist ja: Es ist schlecht gelöst. | |
| Nehmen die Klagen zu? | |
| Es kann sein, dass die Klagen nicht zunehmen, weil die Entscheidungen, die | |
| auf Basis der neuen Verordnung gefällt werden, schwierig anzugreifen sind – | |
| man muss die Verordnung grundsätzlich in Frage stellen. Wir müssen | |
| Ratsuchenden sagen, dass es gegenwärtig schwierig ist, Rechtsschutz zu | |
| erhalten. In einzelnen, besonders dramatischen Fällen macht es dennoch | |
| Sinn, es zu versuchen, aber es ist gegenwärtig ein äußerst schwieriges | |
| Unterfangen. Wenn es keinen Sturm von Klagen gibt, sagt das aber nicht, | |
| dass die Verordnung okay ist, das Problem wird nur verdeckt. | |
| 16 Feb 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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