| # taz.de -- Wiederentdeckte Fotografin: Die Dunkelkammer am Damenzimmer | |
| > Ein aktueller Bildband würdigt die 1933 früh verstorbene Fotografin Aenne | |
| > Biermann. Deren Werk entzweite seinerzeit die Museumsleiter im Norden. | |
| Bild: Ihre Motive fand Aenne Biermann oft zu Hause: Drei Eier, fotografiert 1928 | |
| Wenn auch nicht mehr weiße Flecken, so doch häufig noch gedankenlos | |
| marginalisiert sind die frühen weiblichen Akteure in der Geschichte der | |
| europäischen Fotografie ab etwa 1920 bis zum NS-Faschismus. Dabei ist ihre | |
| Zahl bemerkenswert groß: Für Frauen wie [1][Lotte Jacobi], [2][Lucia | |
| Moholy], [3][Florence Henri] oder [4][Germaine Krull], aber auch | |
| Modefotografinnen wie [5][Madame d'Ora] oder [6][Yva] schien das noch nicht | |
| mit einer langen männlichen Bildtradition belastete Medium ganz | |
| selbstverständlich das zeitgemäße Betätigungsfeld einer sich behauptenden | |
| Künstlerinnengeneration. | |
| Zudem hatte sich die Fotografie gerade neuerlich emanzipiert: Nach ihrer | |
| Abkehr von einem an der Malerei orientierten Piktorialismus um den Ersten | |
| Weltkrieg eröffnete nun die technisch mögliche Verwendung in den | |
| Druckmedien nicht nur neue Distributionswege, sondern auch neuartige | |
| thematische wie visuelle Ausrichtungen sowie reichlich Versuchsfelder – | |
| fotohistorisch, je nach Experimentierfreude der Bildautor:innen, subsumiert | |
| als „Neue Sachlichkeit“ oder das „Neue Sehen“. Den Dingen des Alltags, … | |
| Stadt, ihrem Leben, ihrer Architektur und technischer Infrastruktur galt | |
| das Augenmerk auch vieler Fotografinnen, ungewohnte Perspektiven und | |
| kontrastreiche Lichtsituationen wurden ihr Repertoire. | |
| Die gebürtige Ungarin [7][Eva Besnyö] (1910–2003) etwa blickte 1931 aus dem | |
| Obergeschoss auf eine Berliner Straßenecke, ein parkendes Auto, spielende | |
| Kinder und ein paar Fußgänger werfen lange Schatten aufs urbane Pflaster. | |
| Zum kollektiven Bildgedächtnis gehört eine etwas dramatischere und frühere | |
| Variante des Themas durch Umbo (Otto Maximilian Umbehr, 1902–1980), die | |
| Fotografie Besnyös, 2019 etwa im Bremer Paula-Modersohn-Becker-Museum | |
| gezeigt, jedoch erscheint wie die souveräne Reinform dieses zeittypischen | |
| Motivs. | |
| Die rasante technische Entwicklung der Fotografie seit ihren Anfängen in | |
| der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ sie im 20. Jahrhundert auch für | |
| Laien immer einfacher handhabbar werden. Denn es bedurfte nun nicht mehr | |
| der sperrigen Plattenkamera und alchemistischen Negativtechnik eines | |
| Berufsfotografen. Der Rollfilm und ein leichter Apparat wurden, wenngleich | |
| immer noch kostspielig, die ständigen Begleiter auch vieler | |
| Amateurlichtbildner:innen. | |
| Fotografische Autodidaktin war auch Aenne Biermann (1898–1933). | |
| Aufgewachsen in einer großbürgerlich jüdischen Fabrikantenfamilie am | |
| Niederrhein, erhielt die „höhere Tochter“ keine Berufsausbildung, wohl aber | |
| eine umfassende Förderung ihrer musischen Talente. Durch ihre Heirat mit | |
| einem jüdischen Kaufmann kam sie 1920 ins wirtschaftlich wie kulturell | |
| florierende thüringische Gera und so auch in den intellektuellen Dunstkreis | |
| des gerade in Weimar gegründeten Bauhauses. | |
| Um das Aufwachsen ihrer zwei Kinder zu dokumentieren, legte sich Biermann | |
| eine fotografische Ausrüstung zu und ließ ein gut ausgestattetes Atelier | |
| nebst Dunkelkammer einrichten – mit direktem Zugang von ihrem | |
| „Damenzimmer“. Schnell sprengte ihr fotografischer Elan den ursprünglichen | |
| Rahmen, blieb aber dem häuslichen Umfeld verbunden: Pflanzen, Blätter, | |
| Früchte, Mineralien, die sie sammelte, Menschenbilder, aber auch | |
| experimentelle Doppelbelichtungen und Selbstporträts für Fotocollagen | |
| zählten zu den 3.400 Negativen, die Biermann ab 1926 belichtete und | |
| sorgfältig nummeriert archivierte. | |
| Biermanns subjektive Bildfindung entsprang der Intimität zu mit ihr | |
| vertrauten Personen, Situationen und Dingen, selber beschrieb sie die | |
| sichere intuitive Erfassung des optischen Reizes als Geheimnis eines | |
| überzeugenden Bildes. Biermanns Schaffen drängte unweigerlich in die | |
| Öffentlichkeit: 1927 fertigte sie für einen befreundeten Geologen | |
| Veröffentlichungsfotos von Gesteinen an, und sie begann, an Gruppen- und | |
| Wanderausstellungen teilzunehmen, so 1929 an der prominent besetzten | |
| internationalen Übersichtsschau „Film und Foto“ (FIFO) des Deutschen | |
| Werkbundes in Stuttgart mit rund 200 Fotograf:innen. | |
| Aenne Biermanns Fotografie war auf der Höhe ihrer Zeit – und natürlich | |
| nicht frei von Einflüssen anderer, unvermeidbar auch von Männern. | |
| Pflanzenbilder in Vergrößerung waren die Spezialität von [8][Karl | |
| Blossfeldt] (1865–1932), der sie für den Unterricht ornamentaler Gestaltung | |
| an Kunstgewerbeschulen erstellte. Naturphänomene, Kristalle, Muscheln oder | |
| Schnecken verdichtete [9][Alfred Erhardt] (1901–1984) zu überzeitlich | |
| skulpturaler Fotoästhetik, und [10][Albert Renger-Patzsch] (1897–1966) gilt | |
| als unangefochtener Meister des kühlen Bildzugriffs in Produkt- und | |
| Industriestillleben. | |
| So musste sich Aenne Biermann, als ihre Fotografie zunehmend das Interesse | |
| von Publikationen und Sammlungen weckte, eine geradezu vernichtende Kritik | |
| von [11][Carl Georg Heise], dem Leiter des Lübecker Museums für Kunst- und | |
| Kulturgeschichte, bieten lassen. Er schickte ihr von ihm angefordertes | |
| Bildmaterial mit langatmigem Begleitschreiben zurück, bezeichnete es als | |
| „künstlerisch unzulänglich“ und bedauerte „im Interesse der Sache“, w… | |
| ihre „gewiss wohlmeinenden aber (…) sehr dilettantischen Versuche“ bereits | |
| in Kunstzeitschriften gedruckt und in Ausstellungen zu sehen waren. Künftig | |
| solle Biermann besser „nicht zu stark“ in die Öffentlichkeit treten. Heise | |
| legte zur Belehrung noch einen seiner Aufsätze bei – zu seinem Protegé | |
| Renger-Patzsch. | |
| Ganz anders sah man es am Landesmuseum Oldenburg unter seinem Leiter Walter | |
| Müller-Wulckow, Verfechter des Bauhauses sowie der modernen Fotografie. | |
| Hatte er 1928 sinnigerweise Renger-Patzsch und Blossfeldt je eine | |
| monografische Ausstellung gewidmet, folgte 1929 dann Aenne Biermann mit | |
| ihrer ersten musealen Einzelausstellung. Sie stellte 136 Ausstellungsabzüge | |
| und 14 Pressefotos zur Verfügung, das Haus kaufte acht Aufnahmen an und | |
| reichte die Ausstellung an das Bremer Focke-Museum weiter. Dort würdigte | |
| man Biermanns Werke als Marksteine einer Entwicklung der Fotografie vom | |
| Handwerklichen zum Künstlerischen. Weitere Etappen im Norden waren geplant, | |
| Biermann verbat sich allerdings entsprechende Ansinnen Richtung Lübeck. | |
| Aenne Biermanns früher Tod im Januar 1933 ersparte ihr die Verfemung ihres | |
| Werkes und die Verfolgung als Jüdin, ihr Archiv wurde auf der Flucht ihrer | |
| Familie nach Palästina konfisziert und gilt als verschollen. Aber immerhin | |
| überdauerten 400 Abzüge in deutschen Sammlungen, im Norden etwa auch im | |
| Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. | |
| 1987 initiierte das Folkwang-Museum Essen die Wiederentdeckung der | |
| Fotografin, seit 1992 lobt die Stadt Gera den Aenne-Biermann-Preis für | |
| deutsche Gegenwartsfotografie aus. [12][2019 in München] und 2020 neuerlich | |
| in Essen veranstaltete monografische Ausstellungen wurden von einer | |
| umfassenden Publikation mit sechs kunsthistorischen Kontextualisierungen im | |
| Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess begleitet, sie erhielt im November 2020 | |
| den Deutschen Fotobuchpreis der Hochschule der Medien Stuttgart, Kategorie | |
| Fotogeschichte. Damit wird nicht nur ein ebenso erkenntnisreiches wie | |
| kongenial gestaltetes Druckwerk gewürdigt, auch Aenne Biermanns Platz in | |
| der Fotografie ist nochmals unverrückbar bestätigt. | |
| 12 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bettina Maria Brosowsky | |
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