# taz.de -- Weihnachten in Berlin: Entzauberung erst nächstes Jahr | |
> Freunde wurden ausgeladen, die Eltern schicken über Whatsapp eine | |
> Weihnachtspredigt aus dem Rheinland. Und Gedichte gab es auch. | |
Bild: Freunde und Eltern ausgeladen: Weihnachten in Berlin | |
Es war schon sehr ruhig. Die Nachbarn im nicht trittschallisolierten | |
Dachgeschoss über uns: offenbar waghalsig bei Oma und Opa. Die Nachbarn | |
unter uns: mit vollgepacktem Auto samt Hund und Pferdeanhänger zur Mutti | |
aufs Land, gleich für mehrere Wochen, die freiwillige Quarantäne im Vorfeld | |
soll sich lohnen. Der Seitenflügel vom Nachbarhaus: malermäßig | |
aufgehübscht, aber fast komplett entmietet. | |
Die Neubau-Eigentumswohnungen, die der Projektentwickler Frankenstein | |
Consult in die Bombenlücke hinterm Haus gequetscht hat: noch nicht bezogen. | |
Im Görlitzer Park vorne raus: fast gepflegte Ruhe, locker gestreute, | |
bourgeois anmutende Spaziergehende, Dealer und Friends spielen, wohl um | |
sich warmzuhalten, leise Frisbee im Schneeregen. | |
Die Freunde, die zum Essen kommen sollten, wurden wieder ausgeladen, eine | |
Übernachtungsverabredung der Kinder gecancelt. | |
Von den Eltern im Rheinland kommt per Whatsapp ein Foto: Der örtliche | |
Karnevalswagenbauer, derzeit arbeitslos, hat ein Gefährt gebastelt, mit dem | |
der Pfarrer jetzt an Heiligabend durchs Städtchen rollt, um Open-Air-Metten | |
zu halten. Darauf fliegt ein mit Spikes gespicktes Pappmaschee-Virus wie | |
eine fiese Kanonenkugel auf den Stern von Bethlehem zu. | |
## „Dieser Stern verglüht“ | |
Es soll zuversichtlich stimmen, dass im Schweif des Virus „Dieser Stern | |
verglüht“ steht, im Schweif des bedrohten Klassikers aber „Sein Licht | |
leuchtet ewig“. Der Pfarrer hat vor diesem Aufputz eine Predigt in Form | |
einer Büttenrede gehalten über das Beherbergungsverbot vor 2.000 Jahren und | |
so. Was haben wir gelacht. | |
So lustig hat’s die schwäbische Pfarrerin der feministischen Gemeinde in | |
der Glogauer Straße nicht. Vor knapp 30 Versprengten (Voranmeldung, | |
schlechtes Wetter, mutierte Varianten) beschwört sie die Erde als bedrohte | |
Herberge und fordert Abkehr von Massentierhaltung, Fleischkonsum und | |
fossiler Energie. Im Kirchgarten werden zwei mit zerschlissenen Palitüchern | |
behängte Laubsägeschafe durchs Rund getragen, der Engel jongliert mit | |
Feuerkeulen. Liebes Kreuzberg. | |
Zu Hause auf dem Bildschirm dann erst mal Oliver Polak und Erobique, die | |
pünktlich zum Fest gemeinsam und doch getrennt ein süßes | |
Monitorkamera-Video zu ihrem Song „Corona Forever“ in der „Sad Piano | |
Version“ veröffentlicht haben. Wie niedlich sie sich zuwinken am Ende. | |
## Große Augen, das ganze Programm | |
Ich habe Tränen in den Augen und muss sofort Weihnachtslieder auf meinem | |
alten Klavier spielen, das die Eltern im ersten Shutdown via Spedition nach | |
Berlin geschickt haben. Jetzt steht es neben dem Esstisch und trägt die | |
ganze Ambivalenz von bürgerlicher Konvention und der Möglichkeit freien | |
Selbstausdrucks in sich. Es ist ein Ros entsprungen. Aber nicht lange, die | |
Kinder wollen Bescherung. | |
Heimlich aktivieren wir die Klingelglöckchen-App, legen das Handy vor die | |
Kinderzimmertür und essen im Zimmer Stollen. Fünf Minuten später bimmelt es | |
wie von Zauberhand. Große Augen, das ganze Programm. Natürlich glauben die | |
Kinder jetzt wieder volles Rohr ans Christkind, wie dumm von uns, wir | |
könnten nach all den Jahren ganz gut mal Dankbarkeit gebrauchen. Aber: | |
Entzauberung der Welt auf nächstes Jahr verschoben. | |
Einen Tag später: Die Kerzen am Bäumchen brennen noch mal, der Mann liest | |
was vor, alle sind besinnlich drauf. Plötzlich will ich auch etwas | |
beitragen. Aus dem Band mit den expressionistischen Gedichten lese ich | |
stumpf das erste: Jakob van Hoddis, „Weltende“, 1911. „Dem Bürger fliegt | |
vom spitzen Kopf der Hut,/ In allen Lüften hallt es wie Geschrei./ | |
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,/ Und an den Küsten – liest man – | |
steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/ An Land, um | |
dicke Dämme zu zerdrücken./ Die meisten Menschen haben einen Schnupfen./ | |
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“ | |
Die Kinder gucken irritiert, wie gut, dass wir nicht mit dem Zug zu Oma und | |
Opa. Ich sage nur: Hey, cool, 109 Jahre, so schnell scheint’s mit dem Ende | |
der Welt doch nicht zu gehen. | |
28 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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