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# taz.de -- Die Wahrheit: Gedisst, geschmäht, geschnitten
> Immer mehr Diskriminierer fühlen sich immer öfter diskriminiert. Ein
> erschütternder Betroffenenbericht aus Darmstadt.
Bild: In Darmstadt ist selbst der Lange Ludwig, das Wahrzeichen der Stadt, in S…
Stephan Boldt fühlt sich diskriminiert. Seit er vor ein paar Tagen einen
rassistischen Tweet postete, kann er nicht mehr die Straße entlanggehen,
ohne angestarrt oder beschimpft zu werden. „Eben war ich beim Bäcker, aber
der weigert sich, mir auch nur ein Brötchen zu verkaufen. Dieser blöde
Moralterrorist.“
Boldt kickt ein Steinchen an den Straßenrand. So wie dem 23-Jährigen geht
es sehr vielen Menschen heutzutage. „Kaum äußere ich meine Meinung, hab ich
einen Shitstorm am Hals, der sich gewaschen hat, also der Shitstorm, nicht
der Hals und dann werd ich von meinen, ich sag mal, Mitmenschen voll
geschnitten und gedisst. Und wenn noch mehr Läden mir nichts mehr
verkaufen, muss ich verhungern.“
Aber nicht nur Rassisten werden immer öfter diskriminiert. Auch andere
Bevölkerungsgruppen sind betroffen. „Sexisten sind im Moment ganz schlimm
dran“, sagt Thorsten Meyer vom Verband deutscher Sexisten*innen (VdS) und
streicht sich nervös durch den Igel-Haarschnitt. „Man darf ja gar nicht
mehr einer Frau auf die Titten starren. Da ist man dann gleich das
Arschloch. Natürlich schaue ich einer Frau, die vor mir läuft, auf die
Kiste. Ich meine, die läuft vor mir, wo soll ich denn sonst hinsehen?“
Seit geraumer Zeit werden Schulungen gegen Rassismus, Sexismus und
generelles Diskriminieren angeboten, in manchen großen
Wirtschaftsunternehmen sind solche Vorträge und Fortbildungen mittlerweile
Pflicht für die Beschäftigten.
## Geborener Sexist
„So mancher Kollege ist deswegen schon rausgeschmissen worden, nur weil er
den einen oder anderen sexistischen Spruch gemacht hat oder einer Kollegin
im Vorbeigehen mal die Hand auf den Hintern gelegt hat. Dabei hat er sich
hinterher auch irgendwie entschuldigt. Das ist so fies“, sagt der
53-jährige Meyer, der neuerdings auch von Geschlechtsgenossen beschimpft
wird. „Dass mich viele Frauen hassen, daran hab ich mich mittlerweile
gewöhnt“, sagt der diplomierte Betriebswirt, „aber ich hab mir das ja nicht
ausgesucht, so zu sein, ich bin geborener Sexist. Das ist in meinen Genen,
hat mein Arzt auch gesagt. Und jetzt kommen da so Frauen, die mich mit
Therapien und so ‚heilen‘ wollen. Wie krank ist das denn? Ich meine …“,…
zeigt auf sein T-Shirt mit der Aufschrift „I am what I am“, das er online
vertreibt, „und ich bin stolz drauf.“
„Das stimmt“, stimmt Matthias Ritschel zu, zusammen mit Boldt und Meyer hat
er vor ein paar Wochen in einem Darmstädter Kneipenhinterzimmer unter
Einhaltung der geltenden Corona-Einschränkungen den Dachverband deutscher
Diskriminierter (DdD) gegründet. „Es wird ja nur noch gehasst und gedisst,
online und offline. Und wir sind die Opfer. Kein Tag vergeht, wo wir nicht
unkommentiert unsere Meinung sagen können, ohne gleich eins dafür aufs Dach
zu kriegen. Die Gesellschaft ist soooo intolerant geworden. Und dagegen
wollen wir was unternehmen.“
Inzwischen hat die Initiative begonnen, Twitter aufzufordern,
hetzerische Posts gegen sie zu löschen. „Für Rassismus ist kein Platz in
unserer Gesellschaft“, sagt Boldt, „leider.“
„Ja, Rassismus ist schlimm“, wirft Meyer ein, „aber so schlimm auch wieder
nicht. Corona ist viel schlimmer. In den letzten Monaten sind an Corona
mehr Menschen gestorben als an Rassismus. Jetzt soll es überall
rassismusfreie Zonen geben, vor allem an den Schulen. Die werden total
indoktriniert, die Kinder. Das ist ja kein rein männliches Problem, ich
kenne genug Weiber, die sind genauso rassistisch wie Männer. Oder
schlimmer.“
## Antisemitismus im Blut
Thorsten Ritschel ist weder Sexist noch Rassist, er wird wegen seines
Antisemitismus diskriminiert. „Meine gesamte Familie ist antisemitisch.
Mein Vater, mein Großvater. Wir können den Antisemitismus in unserer
Familie bis ins Jahr 1121 verfolgen. Das steckt uns im Blut und ist ein
wichtiger Teil unserer kulturellen Identität.“
Dass er wegen seines Antisemitismus jetzt verfolgt wird, findet er nicht
schön. „Ich habe noch nie eine Synagoge beschädigt oder ein Grab
geschändet. Das hat man bei uns in der Familie zum letzten Mal vor
vielleicht siebzig, achtzig Jahren getan, das ist ja fast hundert Jahre
her. Wir laufen ja nicht den ganzen Tag mit Pinsel und Farbeimer herum,
malen überall Hakenkreuze hin und spucken Juden an. Der Antisemitismus, der
seit dem Zweiten Weltkrieg in unserer Familie vorherrscht, ist rein
akademischer Natur, der hat mit dem orthodoxen Antisemitismus, den mein
Großvater noch praktizierte, gar nichts zu tun. Und jetzt wollen sie uns
den auch noch verbieten. Dass man nichts mehr sagen kann, daran hab ich
mich ja mittlerweile schon gewöhnt, ist ja das eine, aber jetzt dürfen wir
auch nichts mehr denken.“ Das sei wie in einer Diktatur, einer
Moraldiktatur.
„Und gegen die müssen wir jetzt was tun“, sagt Mayer. „Viele von uns hab…
wegen ihres Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus schon ihren Job
verloren. Die finden im Moment auch nichts, weil jeder Personalchef sie
sofort erst mal googelt. Es gibt nur wenige Firmen, die Sexisten oder
Rassisten einstellen, meist kleine Familienbetriebe oder der
Axel-Springer-Verlag. Ein paar haben das Glück gehabt, als Büromitarbeiter
bei Bundestagsabgeordneten von FDP und AfD unterzukommen. Aber sonst … Die
meisten kriegen bald Hartz IV, müssen zu den Tafeln oder nachts unter der
Brücke schlafen.“
Ein Los, das viele bedauernswerte Sexisten, Rassisten oder Antisemiten
gerade in Darmstadt hart treffen wird, denn dort gibt es nur sehr wenige
Brücken.
28 Dec 2020
## AUTOREN
Michael-André Werner
## TAGS
Diskriminierung
Sexismus
Antisemitismus
Party
Religion
Schwerpunkt Coronavirus
Heilpraktiker
Polizei
Lobbyismus
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