| # taz.de -- Die Wahrheit: Ein Scheißkerl namens Gott | |
| > Der Hiobismus – die Religion zur Coronapandemie und ihren Folgen. | |
| > Erkundungen unter arg gebeutelten Gläubigen in Radebeul. | |
| Bild: Wenn die Einzelgottheit Zeus ficken wollte, dann fickte sie ohne Sinn und… | |
| „Vor ein paar Tagen kam eine Frau zu mir. Sie war verzweifelt. Ihr Mann war | |
| verstorben, ebenso ihr Sohn, bei ihr wurde eine unheilbare Krankheit | |
| diagnostiziert. Ihr Arbeitgeber hatte ihr gekündigt, aus ihrer Wohnung | |
| musste sie auch ausziehen … Sie fragte mich: Wie kann Gott das alles nur | |
| zulassen?“ | |
| Pfarrer Martin Petersen steht mit ausgebreiteten Armen auf der Kanzel einer | |
| Neubaukirche aus den sechziger Jahren am Rand von Radebeul. Alles hier ist | |
| aus Beton und sehr eckig. Der scheußliche Gottesbunker wurde von der | |
| letzten Gemeinde mangels Gläubigen aufgegeben und verkauft. Eine andere | |
| Gemeinschaft aber hat hier nun ihre Heimat gefunden – die Gemeinde von | |
| Pfarrer Petersen. | |
| Es ist Sonntagmorgen. Trotz der Corona-Einschränkungen hält der große | |
| hagere Schwarzrock mit dem weithin leuchtenden geröteten Gesicht in der | |
| voll besetzten, jedoch ungeheizten Kirche seine aufrüttelnde Predigt. | |
| „Warum?, fragte mich die Frau, warum lässt Gott das alles zu? Da legte ich | |
| meine Hand auf ihre Schulter und sprach: Weil Gott ein Scheißkerl ist. Gott | |
| ist ein blödes, verficktes Miststück.“ | |
| ## Unverbrüchliches Vertrauen | |
| Aus der Gemeinde sind zustimmende Rufe und das eine oder andere „Halleluja, | |
| Hackfresse!“ zu hören. Im ersten Moment wirkt das ungewohnt, aber Pfarrer | |
| Petersen ist Hiobist. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der Hiobismus | |
| vom Christentum abgespalten. Nach dem Tod seiner geliebten Frau wurde er | |
| durch den Freiherr von Radebeul-Schwetzingen ins Leben gerufen, der eine | |
| neuartige Kirchengemeinschaft gründete. Seine Wut auf einen allmächtigen, | |
| aber tatenlos zusehenden Gott übertrug er in die neue Religion, die er nach | |
| dem biblischen Hiob benannte. | |
| Dem sehr gläubigen Hiob wird im Alten Testament von Gott übel mitgespielt. | |
| Er verliert seinen Besitz, seine Kinder, und schließlich bekommt Hiob auch | |
| noch eklige Hautgeschwüre, was damals besonders schlimm war. Auf all diese | |
| Schicksalsschläge reagiert er mit seinem unverbrüchlichen Vertrauen: Gott | |
| wird sich dabei schon was gedacht haben. Aber – glaubt man den Anhängern | |
| des Hiobismus – wahrscheinlich ist dem nicht so. | |
| „Gott hat sich bei all dem nicht viel gedacht. Und wenn, dann nichts | |
| Gutes“, sagt Pfarrer Petersen nach dem Gottesdienst, den er mit einem für | |
| christliche Ohren ungewöhnlichen Gebet beendet hat, denn Hiobisten beten | |
| nicht zu Gott, sondern sie beschimpfen und verfluchen ihn. | |
| Wir stehen im Kirchenfoyer, das fast noch hässlicher ist als das | |
| Kirchenschiff. „Wir wollen den Herrn ja nicht mit Prunk und einem schönen | |
| Gotteshaus ehren“, sagt Petersen. „Hier ist es hässlich, weil Gott hässli… | |
| ist. Die Gläubigen sollen sich hier nicht geborgen fühlen, denn in Gottes | |
| Nähe ist der Mensch nicht geborgen.“ | |
| Früher hieß es: Gottes Wege sind unergründlich. Für die Hiobisten sind | |
| Gottes Wege aber nur allzu offensichtlich. „Herr Oberallmächtig ist total | |
| verantwortungslos, was seine Schöpfung betrifft. Er hat diese verfickte | |
| Welt erschaffen, aber dann hat sie ihn nicht mehr interessiert. In Wahrheit | |
| ist er einfach ein egoistisches Scheißarschloch, der Prototyp eines weißen, | |
| alten Mannes“, ereifert sich Petersen. | |
| Und das ist bereits die positive Sicht der Hiobisten. Es gibt auch eine | |
| negative Glaubensrichtung. Pessimistische Hiobisten gehen davon aus, dass | |
| die Menschen für Gott nur zur Unterhaltung da sind: Die Erde ist Netflix | |
| für Gott. | |
| „Der Herr will gar nicht helfen“, sagt Petersen. „Er sitzt da oben auf | |
| seiner Wolke, schaut auf uns herab und holt sich ab uns zu ein Bier aus dem | |
| Kühlschrank. Und manchmal, wenn ihm gar zu langweilig wird, schickt er eine | |
| Plage oder eine Pandemie oder lässt Menschen in Kriegen oder | |
| Naturkatastrophen qualvoll sterben und ergötzt sich dann an ihrem Leid.“ | |
| „Die Juden!“, mischt sich nun ein älterer Mann ein, der sich gerade von | |
| Petersen für die Predigt bedanken will und unserem Gespräch unfreiwillig | |
| gelauscht hat, „die hat er seit Jahrtausenden immer schön am Wickel.“ | |
| Vortestamentarische Gottheiten | |
| Ist Gott Antisemit?, haken wir vorsichtig nach. | |
| „Aber hallo ist der Antisemit. Wenn Sie in einem Lexikon nach dem Begriff | |
| Antisemit schauen, steht daneben ein Foto von Gott. Der so: Hey, ihr seid | |
| mein auserwähltes Volk, ich befreie euch aus der Sklaverei, lass euch aber | |
| erst mal vierzig Jahre lang durch die Wüste laufen. Hier, das ist euer | |
| gelobtes Land, aber da wohnen schon welche. Hups, sorry! Und dann | |
| Jahrhunderte später, nach Diaspora und Holocaust – wo war Gott da | |
| eigentlich? –, sagt er: Hier, da habt ihr euer gelobtes Land wieder. Oh, da | |
| wohnen ja schon wieder welche. Tut mir leid, das müsst ihr wohl mit denen | |
| teilen. Wenn das nicht Antisemitismus ist, dann weiß ich auch nicht.“ | |
| Pfarrer Peterson nickt beifällig und ergänzt: „Da lob ich mir die | |
| vortestamentarischen Gottheiten, die griechischen zum Beispiel: Wenn eine | |
| griechische Gottheit jemanden in ein Tier oder eine Pflanze verwandelt hat, | |
| dann aus Neid oder um sich den Arsch zu retten, aber nicht, um etwas Gutes | |
| zu tun oder den Menschen zu helfen oder sie etwas zu lehren.“ | |
| „Zeus“, funkelt Petersen weiter, „hat Prometheus an den Felsen gekettet, | |
| weil er sauer war, dass Prometheus das Feuer gestohlen hatte. Ganz einfach. | |
| Und wenn Zeus ficken wollte, ging er ficken. Da war kein großer göttlicher | |
| Plan dahinter oder sonst irgendwas. Ein einzelner Gott aber ist ein | |
| einziges blödes Arschloch. Das war den antiken Griechen klar. Bei den | |
| Christen ist das anders. Da ist Gott etwas Heiliges. Ein heiliger | |
| Drecksack, der Maria ein Kind gemacht und das dann qualvoll hat sterben | |
| lassen. Oder jedenfalls hat er nichts dagegen getan.“ | |
| Vielleicht gibt es noch einen anderen Grund für die Untätigkeit Gottes, | |
| vielleicht gibt es Gott gar nicht, geben wir zu bedenken. | |
| Doch davon will Petersen nichts wissen. Das sei Blasphemie, sagt er. Wer | |
| sonst als Gott soll denn die Welt erschaffen haben? Allein die Existenz der | |
| Welt ist doch der beste Gottesbeweis. Dann bittet er uns, das abstoßende | |
| Gotteshaus zu verlassen. Dem kommen wir gern nach, denn hier ist es sehr | |
| kalt. | |
| 1 Mar 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael-André Werner | |
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