# taz.de -- Liebe zur Musik: Vom Mut, zu viel zu sein | |
> Unsere Autorin hat sich einen Steinway-Flügel gekauft – und stellt sich | |
> dem Mädchen, das sie einmal war. | |
Bild: Ein waldhonigfarbener Körper, das kleinste Modell der Firma Steinway & S… | |
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, seinen Ängsten ein Zuhause zu geben, | |
ich habe mich für ein Klavier entschieden. Es hat einen waldhonigfarbenen | |
Körper, ist 155 Zentimeter lang, das kleinste Modell der Firma Steinway & | |
Sons, ein Flügel, gebaut in Hamburg im Kriegsjahr 1940. Die oberen Lagen | |
sind brillant wie die seiner viel teureren, jüngeren Verwandten, aber nicht | |
hysterisch, der Bass klingt rund und voll und die Mitte bleibt ausgewogen. | |
Er hört sich sehr gut an. Nein, ich will es anders ausdrücken, ohne | |
Zurückhaltung: So klingt Liebe. | |
Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, ich würde mich finanziell für ein | |
Musikinstrument verausgaben, ich hätte in stiller Nachsicht den Kopf | |
geschüttelt. Früher vielleicht, hätte ich gedacht, als ein paar der | |
Möglichkeiten, die man so hat als junger Mensch in Europa, eine Chance | |
gehabt hätten, in Erfüllung zu gehen. Außerdem: wohin in der Berliner | |
Familienwohnung mit so einem Elefanten von Instrument? | |
Und, schlimmer, wenn ich mich trauen würde, auf ihm zu spielen, würden sie | |
mich hören, die Nachbarn oben, die Nachbarn unten, die Leute auf der | |
Straße. Irgendwann würden sie bei uns klingeln. Ich würde die Tür öffnen. | |
Die Freundlichen unter ihnen würden lächeln und Begründungen erfinden, | |
weshalb ich bitte nicht vormittags/mittags/nachmittags/abends Klavier | |
spielen sollte wegen Baby/Homeoffice/sonstiger Sorgen, als wären sie schuld | |
daran, dass ich sie störe. Als wäre nicht ich zu viel. | |
Wahrscheinlich schreibe ich deshalb. Schreiben ist, abgesehen vom Klacken | |
auf der Tastatur, nicht zu viel. Texte sind still, sie stören nicht, wenn | |
sie entstehen, die Nachbarn nicht, und später müssen sie auch die Leser | |
nicht stören. Ich meine nicht, dass Texte nicht aufrütteln oder neue | |
Perspektiven eröffnen oder einen wütend, traurig, glücklich werden lassen | |
können. Aber sie tun es auf eine distanzierte Art. Wenn sie denen, die sie | |
lesen, nicht gefallen, scrollen sie halt weiter oder wickeln ihren Biomüll | |
ins Papier. Was ich meine: Zwischen mir und dem Geschriebenen und zwischen | |
mir und den Lesern gibt es erst das leere Dokument, dann die Buchstaben, | |
dann die Redakteure, und vor allem gibt es Zeit. | |
## Keine Filter | |
Musik ist das Gegenteil von Stille und das Gegenteil von Abstand. Man kann | |
ihr nicht ausweichen. Man kann sie nicht festhalten. Wenn ein Ton kommt, | |
dann fällt er in einen hinein. Zwischen mir und der Musik gibt es – nichts. | |
Keinen Filter. Sie greift in mich hinein und zieht alles raus. Das ist | |
extrem, wenn man ihr zuhört. Das kann unerträglich sein, wenn man sie | |
macht. | |
Der Gedanke, mich mit einem Klavier dem Mädchen zu stellen, das ich einmal | |
war, kommt mir im Sommer vor einem Jahr. Meine Mutter ruft an und sagt, | |
dass meine frühere Klavierlehrerin gestorben sei. | |
Sie hieß Frau F., hatte eine tiefe Stimme und ein flächiges Gesicht. Sie | |
war groß und blieb es auch, als ich ausgewachsen war. Ich verbrachte viele | |
Stunden mit ihr, seit ich fünf war. Sie war unsere Nachbarin, früher | |
Opernsängerin, später Korrepetitorin, dann private Klavierlehrerin. Ich | |
ging jede Woche ein- bis zweimal zum Unterricht in ihr altes Haus, das | |
unter dunklen Nadelbäumen kauerte wie in einer Höhle. In einem Erkerzimmer | |
auf einem durchgescheuerten Teppich stand ihr Blüthner-Flügel. | |
Seine Tasten waren angegraut von Generationen von Klavierschülern. | |
Vergilbte Partituren quollen aus den Regalen, im Winter zog die Kälte durch | |
die Fenster, im Sommer die Hitze, aber der Flügel schien den Temperaturen | |
zu trotzen. Wenn alles andere in mir in Aufruhr war, der Flügel blieb | |
stabil, voll und rund im Bass, hell und lyrisch in der Höhe. Er machte es | |
mir leicht, denn er reagierte schon beim Gedanken, einer Note eine andere | |
Farbe geben zu wollen. | |
„Willst du unser Klavier haben?“, fragt meine Mutter in die Stille, die am | |
Telefon entstanden ist, nachdem sie mir von Frau F.s Tod erzählt hat. Meine | |
Mutter fängt gern große Gefühle mit dem Praktischen ein, meine Bewunderung | |
dafür grenzt an Neid. Das Klavier stünde rum und staube ein, sagt sie, sie | |
selbst spiele nicht mehr, unsere Kinder hätten bestimmt Freude daran. | |
Vielleicht käme ja auch ich hin und wieder dazu, zu üben, wir könnten eine | |
Spedition bestellen, kein Problem. | |
Das Klavier meiner Eltern ist ein Instrument, für das es im Englischen den | |
Begriff Upright Piano gibt. Der Klangkörper nimmt weniger Raum ein als bei | |
einem Flügel, er steht aufrecht an der Wand. Wenn man die Tasten anschlägt, | |
wird der Druck auf die Hämmer, die auf die Saiten treffen, erst durch eine | |
Mechanik in die Senkrechte umgeleitet. Bis der Druck der Fingerkuppe also | |
auf der Saite ankommt, dauert es beim Klavier immer einen Moment länger als | |
beim Flügel, und besonders lange dauert es beim Klavier meiner Eltern. Man | |
könnte auch sagen, es hat die Aura eines Volvos: praktisch, geduldig, | |
alles, aber nicht reaktionsschnell. „Überleg’s dir“, sagt meine Mutter u… | |
beendet das Gespräch. | |
Damals spielte ich am liebsten auf Frau F.s Blüthner. Als ich noch kleiner | |
war, ließ ich Tiere über die Tasten kriechen, hüpfen, stelzen, schwimmen, | |
schleichen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, das sich tief in mir | |
einstellte, wenn ich ein Stückchen in Moll spielte und mir vorstellen | |
sollte, es sei die Geschichte eines Hundes, der den Weg nicht mehr nach | |
Hause fand. Ich erfuhr, wie sich etwas anfühlte, wofür ich erst später | |
Worte kennenlernte: Verzweiflung zum Beispiel, wie im Fall des Hundes. Oder | |
Überschwang. Oder Abschied. Abschied war der Moment, wenn ein Lieblingstakt | |
verklang und ich ihn wieder erleben wollte, aber so nicht mehr hinbekam. | |
Ich durfte zu ihm, wenn meine Eltern mir zu Hause sagten, ich hätte doch | |
schon Stunden geübt, das reiche für den Tag, schließlich würde ich nicht | |
Pianistin werden wollen. Oder? Sie sagten, Pianisten bräuchten nicht nur | |
viel Talent, sondern auch viel Glück. Wenn jemand sogar alles hätte, Talent | |
und Fleiß und Glück, dann würde ich nicht mein Leben damit verbringen | |
wollen, nach Konzerten einsam in Hotelzimmern zu sitzen. Oder? Ich konnte | |
mir damals nichts unter Einsamkeit in Hotelzimmern vorstellen. Aber es | |
schien etwas zu sein, was man nicht riskieren sollte. | |
In den Stunden im Erkerzimmer löste ich mich in der Musik auf. Als ich | |
älter wurde, spürte ich Menschen und Charaktere um mich herum, wenn ich | |
spielte, ich berauschte mich an Akkorden, und wenn ein Stück wie von selbst | |
lief, hatte ich immer wieder dieselben Charaktere um mich, sogar meinte ich | |
mal, meine verstorbene Großmutter zu spüren. Auf manche freute ich mich, | |
manche gruselten mich, aber sie waren der Grund, weshalb ich immer | |
weitermachte. | |
Es war auch, als würde Frau F. hören, was in mir vorging, wenn ich nur zwei | |
Takte spielte. Frau F. sagte mir Sätze wie: „Hat dich dein Bruder | |
geärgert?“ Sie stellte fest: „Du bist verliebt“ oder: „Heute scheint d… | |
Sonne bei dir.“ Ich verstand, dass Musik mit dem Leben zusammenhängt, und | |
durch sie lernte ich, dass ich vor der Musik nichts verstecken kann und | |
dass Musik alles preisgibt. | |
Das klingt ein bisschen pathetisch, aber das ist die Wahrheit. Und es wurde | |
zum Problem. Wenn jemand die Triolen, das Tempo, die Dynamik, irgendwas | |
kritisierte, dann kritisierte der Jemand nicht meine Technik oder die Art, | |
wie ich Musik machte. | |
Er urteilte über mich. | |
Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb selbst Profimusiker immer | |
wieder behaupten, sie stünden ganz im Dienst eines Werks. Als seien sie | |
überzeugt, es würde helfen, sich hinter den Komponisten zu verstecken. Für | |
mich klingt es, als sagten sie, das, was ihr hört, bin gar nicht ich, es | |
ist ein anderer. Als dürften sie nicht ich sagen in der Musik. Vielleicht | |
ist das ein Schutz, ich weiß es nicht. | |
Frau F. begleitete mich damals zu Vorspielen. Manche fanden mit anderen | |
ihrer Schüler statt, andere vor Leuten, die mir nicht vertraut waren. | |
Anfangs waren Vorspiele etwas, was man halt so machte als Klavierschülerin. | |
Aber dann wurde ich Teenager und begann, Blicke wahrzunehmen. Wie unter | |
einer Lupe sah ich die Mimik der Menschen im Raum, ich hörte sie tuscheln, | |
bezog jede Regung auf mich. | |
Ich erinnere mich an ein Vorspiel in der Aula meines Gymnasiums. Es war | |
naturwissenschaftlich ausgerichtet. In der Schule glänzte, wer in Physik | |
glänzte und in Mathe und so. Musik, Kunst, Sprachen, die waren halt dabei, | |
aber ich meine, es gab damals unter den Menschen, die diese Fächer | |
unterrichteten, nur den Kunstlehrer, den nicht der Frust über eine | |
verlorene Biografie betrübte. | |
An diesem Vorspielabend war die ganze Schule anwesend, gut 400 Schüler. Ich | |
weiß nicht mehr, warum es diesen Abend gegeben hatte und ob zuvor etwas | |
vorgefallen war, aber ich weiß, dass ich auf den Nadelfilzteppich im Raum | |
starrte. Ich starrte auf den Nadelfilz und wartete darauf, aufgerufen zu | |
werden. Frau F. blieb an meiner Seite, während ich zitterte und flach | |
atmete, das kannte ich. Als meine Hände vereisten, legte ich sie in warmes | |
Wasser. Das Wasser half nicht. Die Hände blieben Eis, mein Debussy blieb es | |
auch, steif und leise, das fand dann auch jemand, der im Publikum saß. | |
Ich brachte den Debussy hinter mich, habe mich wahrscheinlich nicht | |
beschämend verspielt, aber ich erinnere mich, dass ich jede Note einzeln | |
hörte. Als sähe man Zähne, Nase, Poren, Haare, aber nicht den Menschen, zu | |
dem das Gesicht gehört. Oder träte zu nah an ein Seerosengemälde von Monet | |
und erkennte Pinselstriche und Farbtupfen, aber nicht das, was sie | |
bedeuten. Es war, als wäre ich auseinandergefallen. | |
Nach diesem Vorspiel kam ich weiterhin ins Erkerzimmer im Haus unter den | |
Nadelbäumen, zum vollen Bass des Blüthners, seiner warmen Mitte, der | |
lyrischen Höhe. Frau F. sagte, sie könne mir nichts mehr beibringen, ich | |
solle zu einer anderen Lehrerin gehen, wenn ich diesen Liszt fertighätte. | |
Ich übte alles, die Läufe, das Flirren und Leuchten, die handspreizenden | |
Akkorde, die Melodie in der Mitte, die der Daumen zu spielen hatte. Aber | |
die letzte Seite des Liszts rührte ich nicht an. Ich kann sie bis heute | |
nicht. Frau F. redete mir gut zu, sie redete mit meinen Eltern, meldete | |
mich bei Wettbewerben an. Dann meldete sie mich wieder ab. | |
Meine Mutter setzt Ideen gern um. Nach unserem Telefonat bestellt sie einen | |
Klaviertechniker, der das Instrument untersucht. Es ist kaum verstimmt, die | |
Tasten laufen gleichmäßig. Der Techniker öffnet den Klangkörper und stellt | |
einen Riss in der Gussplatte fest. Die Gussplatte verhält sich im | |
Instrument wie das Becken im Körper eines Menschen, es hält alles zusammen. | |
Der Riss in der Gussplatte ist haarfein, man kann auf dem Klavier noch | |
spielen, einen Transport würde es nicht überleben. Die Nachricht enttäuscht | |
mich nicht. | |
Als die Schule mich nach dem Abi endlich freigab, zog ich in eine andere | |
Stadt und stopfte Hunderttausende Buchstaben zwischen die Musik und mich. | |
Vielleicht kann man sagen, ein Musikwissenschaftsstudium ist der Versuch, | |
Abstand zur Musik zu bekommen. Ich bekam Worte für sie. Ich lernte, Sonaten | |
in ihre Bestandteile zu zerlegen, Terzverwandtschaften zu erkennen, und wie | |
die unauflösbare Sehnsucht im Tristan-Akkord funktioniert. | |
Ich schrieb über die Wirkung offener Schlüsse und las Bücher darüber, wie | |
Mozart es schaffte, dass die Musik seiner Opern ehrlicher war als die | |
Texte, die seine Figuren sangen. Abiturtreffen mied ich, um nicht das | |
Berufsbild eines Musikwissenschaftlers definieren zu müssen. In meinem | |
Studentenzimmer stand ein E-Piano, es klang farblos, aber okay, nur die | |
Charaktere, die mich einst umgeben hatten, wenn ich auf dem Blüthner | |
spielte, die kamen nicht zurück. | |
## Likör und Resignation | |
Wenn ich meine Eltern besuchte, schaute ich anfangs bei Frau F. vorbei, | |
setzte mich ins Erkerzimmer. Meine Finger waren träge geworden, klar, aber | |
sie hörte noch immer meine inneren Zustände in der Musik. Sie fragte nicht | |
mehr, warum ich es nicht an der Hochschule probiert hatte. Sie bot mir | |
Likör an, ich meinte, Resignation in ihrem Gesicht zu erkennen, ich lehnte | |
ab. Als ich ihr ein nächstes Mal begegnete, stellte ich mich an den | |
Gartenzaun, um ein paar Sätze mit ihr zu wechseln, später winkte ich ihr | |
eilig von der Straße zu. Dann sah ich sie nicht mehr. | |
Ich schrieb über die Mutteruhr der DDR, spätes Coming-out älterer Männer, | |
darüber, warum sich Menschen Kunst an die Wand hängen, und wie das | |
Auswahlverfahren für eine Stelle im Orchester Bewerber zermürben kann. Ich | |
interviewte Musiker, fragte sie, warum sie als Teenager nicht aufgehört | |
hatten, ob sie jemals einen Plan B hatten (meistens nicht) oder was sie | |
sonst machten, wenn nicht Musik. Das ging. Im Grunde ging es in Gesprächen | |
mit Musikern oft um ein Konzept (nur Lieder, die im Krieg entstanden | |
waren), eine Biografie (nur Stücke von Clara Schumann), ein Instrument | |
(Mozarts Geige). Aber die Musik selbst mied ich wie eine unerfüllte Liebe: | |
Ich ließ sie nicht an mich heran. Dafür fand ich gute Gründe. Die Arbeit. | |
Die kleinen Kinder. Der Klang des E-Pianos. | |
Im Rückblick zerfällt jede Entscheidung in Gründe, und natürlich könnte ich | |
behaupten, sie sei auf bestimmte Ereignisse zurückzuführen. Eines erlebe | |
ich täglich. Seit einiger Zeit wohnt ein Flötist über uns. Er spielt über | |
Stunden auf einer Bansuri, einer indischen Flöte. Die holzigen Vierteltöne | |
ziehen in dünnen Linien in unsere Wohnung. Sie zersetzen meine Sätze, bevor | |
ich sie aus meinem Kopf in den Computer tippen kann. Anders ausgedrückt: | |
Die Flöte nervt. Aber ich kann ihr die Vierteltöne nicht nachtragen, denn | |
wenn ich unsern Nachbarn im Treppenhaus sehe, sieht er glücklich aus. | |
Ein anderes Erlebnis waren die Begegnungen mit einer Person, die so viel | |
Fleiß und Talent und Glück gehabt hatte, dass sie das Dilemma mit den | |
einsamen Hotelzimmern kannte. Sie schien auch das zu sein, wofür das Wort | |
unstet erfunden wurde: mal charmant, mal verletzend, mal total deprimiert, | |
dann voller Freude. Heute würde ich sagen, sie hatte vielleicht so viel | |
Zeit mit Musik verbracht, dass sie wurde wie sie: Mal stößt sie dich weg, | |
dann umarmt sie dich. Sie ist nie eindeutig. Und das Schmerzhafteste an | |
ihr: Wenn ein Ton verklungen ist, holt man ihn nicht zurück. Er kommt nie | |
wieder, wie er war. | |
Wenn dieser Mensch Musik machte, schien er sein Publikum in die Gegenwart | |
zu holen, jedes Mal. Er tat das in hoher Frequenz. Die Musik schien ihn so | |
anzufüllen, dass er noch andere Ventile brauchte als Konzerte: Worte. Er | |
sprach über Musik und über vieles andere, manche urteilten deshalb schlecht | |
über ihn, als dürften Musiker nichts anderes machen als Musik. Ich war ihm | |
dafür dankbar. Ich fand nicht, dass er ein extra Diplom dafür bräuchte. | |
Nach dieser Logik würde auch jemand wie ich ein Diplom brauchen, um wieder | |
Klavier spielen zu dürfen, und zwei, wenn ich auf einem Flügel spielen | |
wollte. Auf meinem Flügel. Es muss ja nicht Liszt sein. | |
Der Flötist mit seiner Bansuri, der Pianist mit seinen Ventilen: Sie waren | |
und sind für mich das, was ich mir unter frei vorstelle. | |
An einem diesigen Wintertag, ein paar Wochen vor dem Shutdown, betrete ich | |
ein Klavierfachgeschäft in Berlin. Ich eile an den schwarz lackierten | |
Flügeln vorbei zu den Upright Pianos und setze mich ans erste, ans zweite. | |
Sie klingen schön, laufen leicht. Ich entdecke einen Hebel unter der | |
Tastatur, lege ihn um. Das Klavier vibriert nicht mehr. Man hört den Klang | |
nur über Kopfhörer. Eine Stummschaltung. Wie für mich gemacht! | |
Vielleicht wage ich mich deshalb an den ersten Flügel, mir kann nicht viel | |
passieren, denke ich. Ich staune über die Leichtigkeit, mit der die Taste | |
den Druck meiner Finger auf den Hammer übersetzt und der Hammer auf die | |
Saite. Die Schwerkraft ist mein Freund. Ich muss den Finger kaum heben, um | |
denselben Ton noch mal anzuschlagen. Ich kann sehr leise spielen. Sehr, | |
sehr leise. Ich kann ihn brüllen lassen. | |
## Wie eine Einbauküche | |
Der Flügel ist weiß, ich denke an Udo Jürgens. Ich setze mich an den | |
nächsten, schwarz lackiert, die Klarheit seines Klangs fasziniert mich. Ein | |
anderer kostet so viel wie unsere Einbauküche. Seine Höhe: kräftig, aber | |
kühl. Der freundliche Klavierfachmann erzählt, wie ein Instrument sich | |
verändere, je nachdem, wer es spiele. Jeder Flügel, der neu aus der Fabrik | |
kommt, von der Chefintoneurin geprüft, habe einen Grundcharakter, der sich | |
weiter ausbilde, je nachdem, wer ihn regelmäßig spiele. Von da an würde das | |
Holz in Schwingung versetzt. Manche können wunderbar mit dem einen | |
Instrument spielen, mit dem nächsten aber nicht, da klinge es so schlimm, | |
dass sie bei Steinway am liebsten sofort den Klavierstimmer bestellen | |
würden. | |
In einem Nebenraum steht ein waldhonigfarbenes Instrument, sie haben es | |
kürzlich aus dem Haus eines Arztes in Berlin-Lichterfelde geholt. Nach dem | |
Tod des Arztes ist seine Frau in ein Pflegeheim gezogen, den Flügel konnte | |
sie nicht mitnehmen. Mehr kann der nette Klavierfachverkäufer nicht über | |
die Familie sagen. Es ist ein S-155, S wie für Small. | |
Ich klappe den Deckel auf, setze mich aber nicht. Wenn er so klänge, wie | |
ich fand, dass er aussah? Warm? Nahbar? Was, wenn ich mich verliebte? Er | |
kostet deutlich weniger als manche Instrumente im Raum, aber immer noch so | |
viel, dass mein Mann mich für übergeschnappt erklären würde. Im Stehen | |
schlage ich die Tasten an. Gut, es ist kein Konzertflügel, er muss auch | |
nicht ein Orchester überstrahlen, er soll sich anschmiegen, begleiten, er | |
ist für die Hausmusik gedacht worden. Vielleicht liegt es an seinem | |
Baujahr, 1940, dass er so lyrisch klingt. Die Zeit war kalt, der Klang | |
hielt dagegen. Gibt nach, gibt zurück. Umarmt. | |
Ich fahre nach Hause, messe unser Wohnzimmer aus und rufe die Bank an. | |
In der Nacht stehe ich auf der Bühne der Elbphilharmonie. Ihre Wände wie in | |
einer Waldorfschule, keine Kanten, fett gespachtelt. Ich atme flach, finde | |
meine Noten nicht. Schreite über die Bühne, sie ist mit Nadelfilz bezogen. | |
Setze mich an den Flügel, er reflektiert die Scheinwerfer. Das Licht | |
blendet. Ich sehe nichts und spüre die Erwartung. Ich werde steif. Als ich | |
aufwache, rast mein Puls. | |
Ich rufe einen Freund an, er ist Musiker, einer von denen, die sich aufs | |
Wesentliche beschränken. Ich erzähle ihm von der Farbe, vom runden Bass, | |
von den Kosten, vom fehlenden Platz in der Wohnung, von den Nachbarn, ich | |
frage ihn, was man bei einem Flügel beachten muss, als wäre er ein | |
Gebrauchtwagen und mein Freund ein Hobbyschrauber. Er sagt nicht viel. Er | |
sagt, das höre sich an, als habe sich dieses Gefühl eingestellt, wenn alle | |
anderen Fragen keine Rolle mehr spielen, das gleiche Gefühl, einen Menschen | |
zu treffen, von dem man feststelle, man möge ihn, freundschaftlich, | |
romantisch. When it’s right, it’s right, sagt er. Alternativen vergleichen | |
zu wollen sei völlig überschätzt. | |
Ich muss plötzlich an Grigori Sokolov denken, der sich die Seriennummern | |
der Flügel notiert, damit er sich merkt, welcher zu welchem Programm passt, | |
sodass er einen bestimmten Flügel für einen bestimmten Abend anfordern | |
konnte, aber das ist eine andere Geschichte. | |
Zwei Tage später unterschreibe ich den Kaufvertrag. Im März tragen zwei | |
schwere Männer meinen Steinway S-155 ins Wohnzimmer, es ist zum Beginn des | |
Shutdowns. Ich habe vielleicht immer noch nicht genug Fleiß und Talent, | |
aber jetzt Glück und Zeit. Immerhin hat bislang noch kein Nachbar | |
geklingelt. | |
Inzwischen spielt auch die fünfjährige Tochter auf dem Instrument. Sie baut | |
sich ein Kuscheltierpublikum. Ihre Lehrerin sagt, wir sollten den Flügel | |
aus der Ecke rausschieben, sie sollte sich früh daran gewöhnen, dass sie | |
nicht versteckt in einer Höhle sitzt. Klavier spielen sei leicht, sagt die | |
Lehrerin. Es sei nur eine Frage, wie man die Finger organisiert. | |
26 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Carolin Pirich | |
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