| # taz.de -- Liebe zur Musik: Vom Mut, zu viel zu sein | |
| > Unsere Autorin hat sich einen Steinway-Flügel gekauft – und stellt sich | |
| > dem Mädchen, das sie einmal war. | |
| Bild: Ein waldhonigfarbener Körper, das kleinste Modell der Firma Steinway & S… | |
| Es gibt verschiedene Möglichkeiten, seinen Ängsten ein Zuhause zu geben, | |
| ich habe mich für ein Klavier entschieden. Es hat einen waldhonigfarbenen | |
| Körper, ist 155 Zentimeter lang, das kleinste Modell der Firma Steinway & | |
| Sons, ein Flügel, gebaut in Hamburg im Kriegsjahr 1940. Die oberen Lagen | |
| sind brillant wie die seiner viel teureren, jüngeren Verwandten, aber nicht | |
| hysterisch, der Bass klingt rund und voll und die Mitte bleibt ausgewogen. | |
| Er hört sich sehr gut an. Nein, ich will es anders ausdrücken, ohne | |
| Zurückhaltung: So klingt Liebe. | |
| Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, ich würde mich finanziell für ein | |
| Musikinstrument verausgaben, ich hätte in stiller Nachsicht den Kopf | |
| geschüttelt. Früher vielleicht, hätte ich gedacht, als ein paar der | |
| Möglichkeiten, die man so hat als junger Mensch in Europa, eine Chance | |
| gehabt hätten, in Erfüllung zu gehen. Außerdem: wohin in der Berliner | |
| Familienwohnung mit so einem Elefanten von Instrument? | |
| Und, schlimmer, wenn ich mich trauen würde, auf ihm zu spielen, würden sie | |
| mich hören, die Nachbarn oben, die Nachbarn unten, die Leute auf der | |
| Straße. Irgendwann würden sie bei uns klingeln. Ich würde die Tür öffnen. | |
| Die Freundlichen unter ihnen würden lächeln und Begründungen erfinden, | |
| weshalb ich bitte nicht vormittags/mittags/nachmittags/abends Klavier | |
| spielen sollte wegen Baby/Homeoffice/sonstiger Sorgen, als wären sie schuld | |
| daran, dass ich sie störe. Als wäre nicht ich zu viel. | |
| Wahrscheinlich schreibe ich deshalb. Schreiben ist, abgesehen vom Klacken | |
| auf der Tastatur, nicht zu viel. Texte sind still, sie stören nicht, wenn | |
| sie entstehen, die Nachbarn nicht, und später müssen sie auch die Leser | |
| nicht stören. Ich meine nicht, dass Texte nicht aufrütteln oder neue | |
| Perspektiven eröffnen oder einen wütend, traurig, glücklich werden lassen | |
| können. Aber sie tun es auf eine distanzierte Art. Wenn sie denen, die sie | |
| lesen, nicht gefallen, scrollen sie halt weiter oder wickeln ihren Biomüll | |
| ins Papier. Was ich meine: Zwischen mir und dem Geschriebenen und zwischen | |
| mir und den Lesern gibt es erst das leere Dokument, dann die Buchstaben, | |
| dann die Redakteure, und vor allem gibt es Zeit. | |
| ## Keine Filter | |
| Musik ist das Gegenteil von Stille und das Gegenteil von Abstand. Man kann | |
| ihr nicht ausweichen. Man kann sie nicht festhalten. Wenn ein Ton kommt, | |
| dann fällt er in einen hinein. Zwischen mir und der Musik gibt es – nichts. | |
| Keinen Filter. Sie greift in mich hinein und zieht alles raus. Das ist | |
| extrem, wenn man ihr zuhört. Das kann unerträglich sein, wenn man sie | |
| macht. | |
| Der Gedanke, mich mit einem Klavier dem Mädchen zu stellen, das ich einmal | |
| war, kommt mir im Sommer vor einem Jahr. Meine Mutter ruft an und sagt, | |
| dass meine frühere Klavierlehrerin gestorben sei. | |
| Sie hieß Frau F., hatte eine tiefe Stimme und ein flächiges Gesicht. Sie | |
| war groß und blieb es auch, als ich ausgewachsen war. Ich verbrachte viele | |
| Stunden mit ihr, seit ich fünf war. Sie war unsere Nachbarin, früher | |
| Opernsängerin, später Korrepetitorin, dann private Klavierlehrerin. Ich | |
| ging jede Woche ein- bis zweimal zum Unterricht in ihr altes Haus, das | |
| unter dunklen Nadelbäumen kauerte wie in einer Höhle. In einem Erkerzimmer | |
| auf einem durchgescheuerten Teppich stand ihr Blüthner-Flügel. | |
| Seine Tasten waren angegraut von Generationen von Klavierschülern. | |
| Vergilbte Partituren quollen aus den Regalen, im Winter zog die Kälte durch | |
| die Fenster, im Sommer die Hitze, aber der Flügel schien den Temperaturen | |
| zu trotzen. Wenn alles andere in mir in Aufruhr war, der Flügel blieb | |
| stabil, voll und rund im Bass, hell und lyrisch in der Höhe. Er machte es | |
| mir leicht, denn er reagierte schon beim Gedanken, einer Note eine andere | |
| Farbe geben zu wollen. | |
| „Willst du unser Klavier haben?“, fragt meine Mutter in die Stille, die am | |
| Telefon entstanden ist, nachdem sie mir von Frau F.s Tod erzählt hat. Meine | |
| Mutter fängt gern große Gefühle mit dem Praktischen ein, meine Bewunderung | |
| dafür grenzt an Neid. Das Klavier stünde rum und staube ein, sagt sie, sie | |
| selbst spiele nicht mehr, unsere Kinder hätten bestimmt Freude daran. | |
| Vielleicht käme ja auch ich hin und wieder dazu, zu üben, wir könnten eine | |
| Spedition bestellen, kein Problem. | |
| Das Klavier meiner Eltern ist ein Instrument, für das es im Englischen den | |
| Begriff Upright Piano gibt. Der Klangkörper nimmt weniger Raum ein als bei | |
| einem Flügel, er steht aufrecht an der Wand. Wenn man die Tasten anschlägt, | |
| wird der Druck auf die Hämmer, die auf die Saiten treffen, erst durch eine | |
| Mechanik in die Senkrechte umgeleitet. Bis der Druck der Fingerkuppe also | |
| auf der Saite ankommt, dauert es beim Klavier immer einen Moment länger als | |
| beim Flügel, und besonders lange dauert es beim Klavier meiner Eltern. Man | |
| könnte auch sagen, es hat die Aura eines Volvos: praktisch, geduldig, | |
| alles, aber nicht reaktionsschnell. „Überleg’s dir“, sagt meine Mutter u… | |
| beendet das Gespräch. | |
| Damals spielte ich am liebsten auf Frau F.s Blüthner. Als ich noch kleiner | |
| war, ließ ich Tiere über die Tasten kriechen, hüpfen, stelzen, schwimmen, | |
| schleichen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, das sich tief in mir | |
| einstellte, wenn ich ein Stückchen in Moll spielte und mir vorstellen | |
| sollte, es sei die Geschichte eines Hundes, der den Weg nicht mehr nach | |
| Hause fand. Ich erfuhr, wie sich etwas anfühlte, wofür ich erst später | |
| Worte kennenlernte: Verzweiflung zum Beispiel, wie im Fall des Hundes. Oder | |
| Überschwang. Oder Abschied. Abschied war der Moment, wenn ein Lieblingstakt | |
| verklang und ich ihn wieder erleben wollte, aber so nicht mehr hinbekam. | |
| Ich durfte zu ihm, wenn meine Eltern mir zu Hause sagten, ich hätte doch | |
| schon Stunden geübt, das reiche für den Tag, schließlich würde ich nicht | |
| Pianistin werden wollen. Oder? Sie sagten, Pianisten bräuchten nicht nur | |
| viel Talent, sondern auch viel Glück. Wenn jemand sogar alles hätte, Talent | |
| und Fleiß und Glück, dann würde ich nicht mein Leben damit verbringen | |
| wollen, nach Konzerten einsam in Hotelzimmern zu sitzen. Oder? Ich konnte | |
| mir damals nichts unter Einsamkeit in Hotelzimmern vorstellen. Aber es | |
| schien etwas zu sein, was man nicht riskieren sollte. | |
| In den Stunden im Erkerzimmer löste ich mich in der Musik auf. Als ich | |
| älter wurde, spürte ich Menschen und Charaktere um mich herum, wenn ich | |
| spielte, ich berauschte mich an Akkorden, und wenn ein Stück wie von selbst | |
| lief, hatte ich immer wieder dieselben Charaktere um mich, sogar meinte ich | |
| mal, meine verstorbene Großmutter zu spüren. Auf manche freute ich mich, | |
| manche gruselten mich, aber sie waren der Grund, weshalb ich immer | |
| weitermachte. | |
| Es war auch, als würde Frau F. hören, was in mir vorging, wenn ich nur zwei | |
| Takte spielte. Frau F. sagte mir Sätze wie: „Hat dich dein Bruder | |
| geärgert?“ Sie stellte fest: „Du bist verliebt“ oder: „Heute scheint d… | |
| Sonne bei dir.“ Ich verstand, dass Musik mit dem Leben zusammenhängt, und | |
| durch sie lernte ich, dass ich vor der Musik nichts verstecken kann und | |
| dass Musik alles preisgibt. | |
| Das klingt ein bisschen pathetisch, aber das ist die Wahrheit. Und es wurde | |
| zum Problem. Wenn jemand die Triolen, das Tempo, die Dynamik, irgendwas | |
| kritisierte, dann kritisierte der Jemand nicht meine Technik oder die Art, | |
| wie ich Musik machte. | |
| Er urteilte über mich. | |
| Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb selbst Profimusiker immer | |
| wieder behaupten, sie stünden ganz im Dienst eines Werks. Als seien sie | |
| überzeugt, es würde helfen, sich hinter den Komponisten zu verstecken. Für | |
| mich klingt es, als sagten sie, das, was ihr hört, bin gar nicht ich, es | |
| ist ein anderer. Als dürften sie nicht ich sagen in der Musik. Vielleicht | |
| ist das ein Schutz, ich weiß es nicht. | |
| Frau F. begleitete mich damals zu Vorspielen. Manche fanden mit anderen | |
| ihrer Schüler statt, andere vor Leuten, die mir nicht vertraut waren. | |
| Anfangs waren Vorspiele etwas, was man halt so machte als Klavierschülerin. | |
| Aber dann wurde ich Teenager und begann, Blicke wahrzunehmen. Wie unter | |
| einer Lupe sah ich die Mimik der Menschen im Raum, ich hörte sie tuscheln, | |
| bezog jede Regung auf mich. | |
| Ich erinnere mich an ein Vorspiel in der Aula meines Gymnasiums. Es war | |
| naturwissenschaftlich ausgerichtet. In der Schule glänzte, wer in Physik | |
| glänzte und in Mathe und so. Musik, Kunst, Sprachen, die waren halt dabei, | |
| aber ich meine, es gab damals unter den Menschen, die diese Fächer | |
| unterrichteten, nur den Kunstlehrer, den nicht der Frust über eine | |
| verlorene Biografie betrübte. | |
| An diesem Vorspielabend war die ganze Schule anwesend, gut 400 Schüler. Ich | |
| weiß nicht mehr, warum es diesen Abend gegeben hatte und ob zuvor etwas | |
| vorgefallen war, aber ich weiß, dass ich auf den Nadelfilzteppich im Raum | |
| starrte. Ich starrte auf den Nadelfilz und wartete darauf, aufgerufen zu | |
| werden. Frau F. blieb an meiner Seite, während ich zitterte und flach | |
| atmete, das kannte ich. Als meine Hände vereisten, legte ich sie in warmes | |
| Wasser. Das Wasser half nicht. Die Hände blieben Eis, mein Debussy blieb es | |
| auch, steif und leise, das fand dann auch jemand, der im Publikum saß. | |
| Ich brachte den Debussy hinter mich, habe mich wahrscheinlich nicht | |
| beschämend verspielt, aber ich erinnere mich, dass ich jede Note einzeln | |
| hörte. Als sähe man Zähne, Nase, Poren, Haare, aber nicht den Menschen, zu | |
| dem das Gesicht gehört. Oder träte zu nah an ein Seerosengemälde von Monet | |
| und erkennte Pinselstriche und Farbtupfen, aber nicht das, was sie | |
| bedeuten. Es war, als wäre ich auseinandergefallen. | |
| Nach diesem Vorspiel kam ich weiterhin ins Erkerzimmer im Haus unter den | |
| Nadelbäumen, zum vollen Bass des Blüthners, seiner warmen Mitte, der | |
| lyrischen Höhe. Frau F. sagte, sie könne mir nichts mehr beibringen, ich | |
| solle zu einer anderen Lehrerin gehen, wenn ich diesen Liszt fertighätte. | |
| Ich übte alles, die Läufe, das Flirren und Leuchten, die handspreizenden | |
| Akkorde, die Melodie in der Mitte, die der Daumen zu spielen hatte. Aber | |
| die letzte Seite des Liszts rührte ich nicht an. Ich kann sie bis heute | |
| nicht. Frau F. redete mir gut zu, sie redete mit meinen Eltern, meldete | |
| mich bei Wettbewerben an. Dann meldete sie mich wieder ab. | |
| Meine Mutter setzt Ideen gern um. Nach unserem Telefonat bestellt sie einen | |
| Klaviertechniker, der das Instrument untersucht. Es ist kaum verstimmt, die | |
| Tasten laufen gleichmäßig. Der Techniker öffnet den Klangkörper und stellt | |
| einen Riss in der Gussplatte fest. Die Gussplatte verhält sich im | |
| Instrument wie das Becken im Körper eines Menschen, es hält alles zusammen. | |
| Der Riss in der Gussplatte ist haarfein, man kann auf dem Klavier noch | |
| spielen, einen Transport würde es nicht überleben. Die Nachricht enttäuscht | |
| mich nicht. | |
| Als die Schule mich nach dem Abi endlich freigab, zog ich in eine andere | |
| Stadt und stopfte Hunderttausende Buchstaben zwischen die Musik und mich. | |
| Vielleicht kann man sagen, ein Musikwissenschaftsstudium ist der Versuch, | |
| Abstand zur Musik zu bekommen. Ich bekam Worte für sie. Ich lernte, Sonaten | |
| in ihre Bestandteile zu zerlegen, Terzverwandtschaften zu erkennen, und wie | |
| die unauflösbare Sehnsucht im Tristan-Akkord funktioniert. | |
| Ich schrieb über die Wirkung offener Schlüsse und las Bücher darüber, wie | |
| Mozart es schaffte, dass die Musik seiner Opern ehrlicher war als die | |
| Texte, die seine Figuren sangen. Abiturtreffen mied ich, um nicht das | |
| Berufsbild eines Musikwissenschaftlers definieren zu müssen. In meinem | |
| Studentenzimmer stand ein E-Piano, es klang farblos, aber okay, nur die | |
| Charaktere, die mich einst umgeben hatten, wenn ich auf dem Blüthner | |
| spielte, die kamen nicht zurück. | |
| ## Likör und Resignation | |
| Wenn ich meine Eltern besuchte, schaute ich anfangs bei Frau F. vorbei, | |
| setzte mich ins Erkerzimmer. Meine Finger waren träge geworden, klar, aber | |
| sie hörte noch immer meine inneren Zustände in der Musik. Sie fragte nicht | |
| mehr, warum ich es nicht an der Hochschule probiert hatte. Sie bot mir | |
| Likör an, ich meinte, Resignation in ihrem Gesicht zu erkennen, ich lehnte | |
| ab. Als ich ihr ein nächstes Mal begegnete, stellte ich mich an den | |
| Gartenzaun, um ein paar Sätze mit ihr zu wechseln, später winkte ich ihr | |
| eilig von der Straße zu. Dann sah ich sie nicht mehr. | |
| Ich schrieb über die Mutteruhr der DDR, spätes Coming-out älterer Männer, | |
| darüber, warum sich Menschen Kunst an die Wand hängen, und wie das | |
| Auswahlverfahren für eine Stelle im Orchester Bewerber zermürben kann. Ich | |
| interviewte Musiker, fragte sie, warum sie als Teenager nicht aufgehört | |
| hatten, ob sie jemals einen Plan B hatten (meistens nicht) oder was sie | |
| sonst machten, wenn nicht Musik. Das ging. Im Grunde ging es in Gesprächen | |
| mit Musikern oft um ein Konzept (nur Lieder, die im Krieg entstanden | |
| waren), eine Biografie (nur Stücke von Clara Schumann), ein Instrument | |
| (Mozarts Geige). Aber die Musik selbst mied ich wie eine unerfüllte Liebe: | |
| Ich ließ sie nicht an mich heran. Dafür fand ich gute Gründe. Die Arbeit. | |
| Die kleinen Kinder. Der Klang des E-Pianos. | |
| Im Rückblick zerfällt jede Entscheidung in Gründe, und natürlich könnte ich | |
| behaupten, sie sei auf bestimmte Ereignisse zurückzuführen. Eines erlebe | |
| ich täglich. Seit einiger Zeit wohnt ein Flötist über uns. Er spielt über | |
| Stunden auf einer Bansuri, einer indischen Flöte. Die holzigen Vierteltöne | |
| ziehen in dünnen Linien in unsere Wohnung. Sie zersetzen meine Sätze, bevor | |
| ich sie aus meinem Kopf in den Computer tippen kann. Anders ausgedrückt: | |
| Die Flöte nervt. Aber ich kann ihr die Vierteltöne nicht nachtragen, denn | |
| wenn ich unsern Nachbarn im Treppenhaus sehe, sieht er glücklich aus. | |
| Ein anderes Erlebnis waren die Begegnungen mit einer Person, die so viel | |
| Fleiß und Talent und Glück gehabt hatte, dass sie das Dilemma mit den | |
| einsamen Hotelzimmern kannte. Sie schien auch das zu sein, wofür das Wort | |
| unstet erfunden wurde: mal charmant, mal verletzend, mal total deprimiert, | |
| dann voller Freude. Heute würde ich sagen, sie hatte vielleicht so viel | |
| Zeit mit Musik verbracht, dass sie wurde wie sie: Mal stößt sie dich weg, | |
| dann umarmt sie dich. Sie ist nie eindeutig. Und das Schmerzhafteste an | |
| ihr: Wenn ein Ton verklungen ist, holt man ihn nicht zurück. Er kommt nie | |
| wieder, wie er war. | |
| Wenn dieser Mensch Musik machte, schien er sein Publikum in die Gegenwart | |
| zu holen, jedes Mal. Er tat das in hoher Frequenz. Die Musik schien ihn so | |
| anzufüllen, dass er noch andere Ventile brauchte als Konzerte: Worte. Er | |
| sprach über Musik und über vieles andere, manche urteilten deshalb schlecht | |
| über ihn, als dürften Musiker nichts anderes machen als Musik. Ich war ihm | |
| dafür dankbar. Ich fand nicht, dass er ein extra Diplom dafür bräuchte. | |
| Nach dieser Logik würde auch jemand wie ich ein Diplom brauchen, um wieder | |
| Klavier spielen zu dürfen, und zwei, wenn ich auf einem Flügel spielen | |
| wollte. Auf meinem Flügel. Es muss ja nicht Liszt sein. | |
| Der Flötist mit seiner Bansuri, der Pianist mit seinen Ventilen: Sie waren | |
| und sind für mich das, was ich mir unter frei vorstelle. | |
| An einem diesigen Wintertag, ein paar Wochen vor dem Shutdown, betrete ich | |
| ein Klavierfachgeschäft in Berlin. Ich eile an den schwarz lackierten | |
| Flügeln vorbei zu den Upright Pianos und setze mich ans erste, ans zweite. | |
| Sie klingen schön, laufen leicht. Ich entdecke einen Hebel unter der | |
| Tastatur, lege ihn um. Das Klavier vibriert nicht mehr. Man hört den Klang | |
| nur über Kopfhörer. Eine Stummschaltung. Wie für mich gemacht! | |
| Vielleicht wage ich mich deshalb an den ersten Flügel, mir kann nicht viel | |
| passieren, denke ich. Ich staune über die Leichtigkeit, mit der die Taste | |
| den Druck meiner Finger auf den Hammer übersetzt und der Hammer auf die | |
| Saite. Die Schwerkraft ist mein Freund. Ich muss den Finger kaum heben, um | |
| denselben Ton noch mal anzuschlagen. Ich kann sehr leise spielen. Sehr, | |
| sehr leise. Ich kann ihn brüllen lassen. | |
| ## Wie eine Einbauküche | |
| Der Flügel ist weiß, ich denke an Udo Jürgens. Ich setze mich an den | |
| nächsten, schwarz lackiert, die Klarheit seines Klangs fasziniert mich. Ein | |
| anderer kostet so viel wie unsere Einbauküche. Seine Höhe: kräftig, aber | |
| kühl. Der freundliche Klavierfachmann erzählt, wie ein Instrument sich | |
| verändere, je nachdem, wer es spiele. Jeder Flügel, der neu aus der Fabrik | |
| kommt, von der Chefintoneurin geprüft, habe einen Grundcharakter, der sich | |
| weiter ausbilde, je nachdem, wer ihn regelmäßig spiele. Von da an würde das | |
| Holz in Schwingung versetzt. Manche können wunderbar mit dem einen | |
| Instrument spielen, mit dem nächsten aber nicht, da klinge es so schlimm, | |
| dass sie bei Steinway am liebsten sofort den Klavierstimmer bestellen | |
| würden. | |
| In einem Nebenraum steht ein waldhonigfarbenes Instrument, sie haben es | |
| kürzlich aus dem Haus eines Arztes in Berlin-Lichterfelde geholt. Nach dem | |
| Tod des Arztes ist seine Frau in ein Pflegeheim gezogen, den Flügel konnte | |
| sie nicht mitnehmen. Mehr kann der nette Klavierfachverkäufer nicht über | |
| die Familie sagen. Es ist ein S-155, S wie für Small. | |
| Ich klappe den Deckel auf, setze mich aber nicht. Wenn er so klänge, wie | |
| ich fand, dass er aussah? Warm? Nahbar? Was, wenn ich mich verliebte? Er | |
| kostet deutlich weniger als manche Instrumente im Raum, aber immer noch so | |
| viel, dass mein Mann mich für übergeschnappt erklären würde. Im Stehen | |
| schlage ich die Tasten an. Gut, es ist kein Konzertflügel, er muss auch | |
| nicht ein Orchester überstrahlen, er soll sich anschmiegen, begleiten, er | |
| ist für die Hausmusik gedacht worden. Vielleicht liegt es an seinem | |
| Baujahr, 1940, dass er so lyrisch klingt. Die Zeit war kalt, der Klang | |
| hielt dagegen. Gibt nach, gibt zurück. Umarmt. | |
| Ich fahre nach Hause, messe unser Wohnzimmer aus und rufe die Bank an. | |
| In der Nacht stehe ich auf der Bühne der Elbphilharmonie. Ihre Wände wie in | |
| einer Waldorfschule, keine Kanten, fett gespachtelt. Ich atme flach, finde | |
| meine Noten nicht. Schreite über die Bühne, sie ist mit Nadelfilz bezogen. | |
| Setze mich an den Flügel, er reflektiert die Scheinwerfer. Das Licht | |
| blendet. Ich sehe nichts und spüre die Erwartung. Ich werde steif. Als ich | |
| aufwache, rast mein Puls. | |
| Ich rufe einen Freund an, er ist Musiker, einer von denen, die sich aufs | |
| Wesentliche beschränken. Ich erzähle ihm von der Farbe, vom runden Bass, | |
| von den Kosten, vom fehlenden Platz in der Wohnung, von den Nachbarn, ich | |
| frage ihn, was man bei einem Flügel beachten muss, als wäre er ein | |
| Gebrauchtwagen und mein Freund ein Hobbyschrauber. Er sagt nicht viel. Er | |
| sagt, das höre sich an, als habe sich dieses Gefühl eingestellt, wenn alle | |
| anderen Fragen keine Rolle mehr spielen, das gleiche Gefühl, einen Menschen | |
| zu treffen, von dem man feststelle, man möge ihn, freundschaftlich, | |
| romantisch. When it’s right, it’s right, sagt er. Alternativen vergleichen | |
| zu wollen sei völlig überschätzt. | |
| Ich muss plötzlich an Grigori Sokolov denken, der sich die Seriennummern | |
| der Flügel notiert, damit er sich merkt, welcher zu welchem Programm passt, | |
| sodass er einen bestimmten Flügel für einen bestimmten Abend anfordern | |
| konnte, aber das ist eine andere Geschichte. | |
| Zwei Tage später unterschreibe ich den Kaufvertrag. Im März tragen zwei | |
| schwere Männer meinen Steinway S-155 ins Wohnzimmer, es ist zum Beginn des | |
| Shutdowns. Ich habe vielleicht immer noch nicht genug Fleiß und Talent, | |
| aber jetzt Glück und Zeit. Immerhin hat bislang noch kein Nachbar | |
| geklingelt. | |
| Inzwischen spielt auch die fünfjährige Tochter auf dem Instrument. Sie baut | |
| sich ein Kuscheltierpublikum. Ihre Lehrerin sagt, wir sollten den Flügel | |
| aus der Ecke rausschieben, sie sollte sich früh daran gewöhnen, dass sie | |
| nicht versteckt in einer Höhle sitzt. Klavier spielen sei leicht, sagt die | |
| Lehrerin. Es sei nur eine Frage, wie man die Finger organisiert. | |
| 26 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolin Pirich | |
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