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# taz.de -- Ungleichbehandlung von Religionen: Leise rieseln die Privilegien
> Deutschland ist tief von christlicher Dominanz durchzogen. Viele nicht-
> oder andersgläubige Menschen werden so unsichtbar gemacht.
Bild: Kruzifix an der Wand – christliche Dominanz auch in vielen deutschen Kl…
Wegen Corona wurden Muslime aufgefordert, den ganzen Monat Ramadan zu
„verschieben“, buddistische Vesakh-Feste wurden abgesagt und waren
überschattet von antiasiatischem Rassismus, zu Chanukka gab es keine
Lockerungen der Maßnahmen und was Divali überhaupt ist, müssen die meisten
sowieso erst googeln. Und nun, während Covid mit Rekordzahlen das Land
zersetzt, macht man wegen [1][Weihnachten] „Pause“ im Lockdown.
Hinweise auf diese [2][Ungleichbehandlung der Religionen] werden oft damit
zurückgewiesen, Weihnachten sei weniger ein religiöses, sondern ein
Familienfest, bei dem alle mitmachen. Das ist aber nur christliche
Normativität: Die Annahme, „alle“ würden christliche Feiertage feiern, we…
diese die Norm sind, sowie Ignoranz darüber, dass andere Feiertage genauso
Familienfeste sein können. Außerdem gibt es einen Riesenunterschied
zwischen „alle feiern Weihnachten mit“ und „allen wird es aufgezwungen“.
Mit „Christen“ meine ich hier nicht nur sehr gläubige Leute, die jeden
Sonntag in die Kirche gehen, sondern alle Christen. Die eigene religiöse
Identität nicht bewusst wahrnehmen zu müssen, weil man nicht diskriminiert
wird, ist auch Teil christlicher Normativität. Auch Atheisten und Menschen
anderer Religionen, die als christlich gesehen werden, weil sie christliche
Namen haben oder „so“ aussehen, genießen einen Teil christlicher
Privilegien – ob sie wollen oder nicht.
Die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Christseins hat manche Köpfe
so tief durchdrungen, dass ein Beitrag von Euronews sogar die Gedenkstätte
in Srebrenica als „Meer aus weißen Kreuzen“ beschrieb. Zur Erinnerung:
Während des Genozids gegen Bosniaken wurden 1995 allein in der Kleinstadt
Srebrenica über 8.300 Muslime und Muslimas von christlichen, serbischen
Soldaten ermordet.
## „Meer aus weißen Kreuzen“
Tausende muslimische Gräber, die klar auf dem Video zu sehen sind, als
„Meer aus weißen Kreuzen“ zu bezeichnen, zeigt, dass manche Menschen lieber
ihren eigenen Augen widersprechen als christlicher Normativität. Und weder
die Redaktion noch die meisten Zuschauer merkten, wie falsch und respektlos
es ist, die Gräber ermordeter Muslime so zu bezeichnen. Die einzige Kritik
kam, wie immer, von Bosniaken selbst – und wurde ignoriert.
Beim TV-Sender ProSieben steht neben der Nummer der Covid-Verstorbenen ein
Kreuz. Entweder fiel der Redaktion nicht ein, dass nicht alle Verstorbenen
Christen sind, oder die „anderen“ sollen sich auch nach dem Tod mitgemeint
fühlen.
Als ich vor fünf Jahren nach Deutschland zog, war ich geschockt vom
starren, mühsamen Umgang vieler Deutscher mit anderen Religionen. Jahrelang
schicken mir Leute, die wissen, dass ich Muslima bin, Wünsche zu
Weihnachten und Ostern. Zu Bajram nichts. Wenn ich christliche Kollegen zu
Weihnachten ignorieren und dann „Ramazan šerif mubarek olsun!“ schreiben
würde, würde ich bestenfalls als Freak gelten und schlimmstenfalls als
Terroristin.
Ich habe Freunde aus aller Welt, und alle kriegen es hin, anderen zu den
richtigen Feiertagen zu gratulieren, sogar mitzufeiern. Doch viele deutsche
Christen wissen auch beim besten Willen und bei guten Absichten nicht, wie
sie überhaupt mit Unterschieden umgehen sollen.
## Feiertagsdebatte, ein Luxus
Ich war auch überrascht, dass man als ArbeitnehmerIn hier nur an
christlichen Feiertagen frei hat. Die Welt geht nicht unter, wenn Fatima
einen Tag Pause von der deutschen Leistungsmaschine hat. Vor allem nicht,
wenn dieser Tag nach bester deutscher Tradition schon Monate vorher
eingeplant werden kann. Jeden Tag melden sich zahlreiche Arbeitende krank.
Wenn das spontan funktioniert, aber bei planbaren Feiertagen Probleme
herbeifantasiert werden, habe ich das Gefühl, unsere Feiertage sind
Deutschland weniger wert als Magen-Darm-Probleme.
Aber als Muslima, die vor Genozid flüchten musste und mit viel größeren
Angriffen kämpft, ist die Feiertagsdebatte für mich Luxus. Wenn Deutschland
dermaßen einfache Basics nicht hinkriegt, fühle ich keine Diskriminierung,
sondern Fremdscham. Und während Christen so sehr an ihre gesellschaftliche
Machtposition gewöhnt sind, dass sogar notwendige Coronamaßnahmen von der
größten Zeitung des Landes als „[3][Psycho-Krieg gegen Weihnachtseinkäufe]…
empfunden werden, werden die jährlich [4][über 1.000 Angriffe gegen
Muslime] größtenteils nicht mal in Lokalzeitungen vorkommen.
Normativität zieht immer Privilegien mit sich und scheint den „Normalen“
unsichtbar. Wer die Probe machen will, beantworte sich folgende Fragen:
Bist du frei vom Druck, Feiertage anderer Religionen zu feiern, die deinem
Glauben widersprechen? Findest du in Medien realistische Darstellungen
deiner Religion und ihrer Mitglieder?
Kannst du ein Arsch sein, ohne dass deine Religion als Grund herhält?
Kannst du toll sein, ohne als Ausnahme zu gelten? Kannst du ein neues
Glaubenshaus bauen, ohne dass die AfD den Weltuntergang herbeilügt? Hast
du, durch zahlreiche Studien bewiesen, keine kleineren Chancen auf Job oder
Wohnung, weil deine Religion „nicht passt“?
Es gibt noch Dutzende solcher Fragen. Die wichtigste: Kannst du leugnen,
Privilegien zu haben, während die Konsequenzen deiner Ignoranz andere
ausbaden? Niemand leugnet, dass Christen in China, Pakistan, Indien
diskriminiert werden. Das heißt aber nicht, dass man nicht darüber sprechen
darf, dass Deutschland seit 15 Jahren von einer explizit christlichen
Partei regiert wird, Kirchen genießen Sonderrechte, in zahlreichen
Gerichten und Schulen hängen Kruzifixe, und wenn der Lehrer mit Kreuzkette
ankommt, ist auch alles normal. Aber wenn eine Frau mit Kopftuch das
Klassenzimmer betritt, ist religiöse Neutralität plötzlich bedroht. Außer
natürlich, sie ist zum Putzen da. Statt „Frohe Weihnachten“ ist mein
Wunsch: Hinterfragt die Norm!
22 Dec 2020
## LINKS
[1] /Coronaregeln-fuer-Weihnachten/!5733670
[2] /Professorin-zu-Religionsfreiheit-an-Unis/!5702488
[3] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/politiker-warnen-immer-dr…
[4] https://www.islamiq.de/2018/02/15/mehr-als-1000-angriffe-auf-muslime/
## AUTOREN
Melina Borčak
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