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# taz.de -- Die These: Weihnachten ist schöner allein
> Das erste Coronaweihnachten könnte ganz anders werden als gewohnt. Das
> muss kein Drama sein, findet unsere Autorin.
Bild: „Kevin-Allein zu Haus“, ein Filmklassiker, den man Weihnachten durcha…
Das erste stressfreie Weihnachten im Erwachsenenleben könnte bevorstehen,
Corona sei Dank. Der vielversprechende Impfstoff wird bis Ende Dezember –
wenn überhaupt – dann sicher nicht der breiten Masse zur Verfügung stehen.
Also wird auch die Weihnachtszeit eine kontaktarme Zeit. Keine
Pflichtbesuche bei der Verwandtschaft, keine gehetzt-genervten Fahrten
durch die halbe Republik, keine wochenlangen Auseinandersetzungen über das
perfekte Menü.
Stattdessen: geschenkte, entspannte Zeit. Denn [1][jeder Zehnte] fühlt sich
laut einer Forsa-Umfrage schon gestresst, wenn er nur an die
Weihnachtsvorbereitungen denkt. Mehr als jeder Fünfte findet das Fest an
sich stressig. Ziemlich viel Belastung für eine Tradition, hinter deren
Ursprung immer weniger Menschen stehen.
Die Kirchen melden seit Jahren Mitgliederschwund, Pfarrgemeinden werden
zusammengelegt, weil kaum noch wer den Gottesdienst besucht. Da ist es doch
immer wieder erstaunlich, welche Kraft Weihnachten trotzdem hat. Die
Kanzlerin beschwört uns, den Teillockdown-November durchzuhalten, um dann
Weihnachten feiern zu dürfen. Das christliche Fest – noch nicht einmal der
höchste Feiertag dieser Religion – ist zum Druckmittel für die ganze Nation
geworden.
Dabei ist es gar kein Drama, Weihnachten allein zu verbringen.
„Aschenbrödel“ läuft auch ohne Familienbesuch von früh bis spät im
Fernsehen. Würstchen mit Kartoffelsalat – immer noch eines der
[2][beliebtesten Weihnachtsessen] in Deutschland – kann man auch ganz
leicht für eine Person machen. Und wer ein schlechtes Gewissen hat, die
Eltern oder andere Verwandte in dieser Zeit allein zu lassen, sollte sich
mal grundsätzlich Gedanken über die Beziehung machen. Eltern- und
Großelternbesuche gehen schließlich auch im Sommerjahresurlaub, dann sogar
länger.
Laut der Forsa-Weihnachtsumfrage ziehen viele Menschen Energie daraus, dass
die Familie über die Feiertage zusammenkommt. Das ist schön – und das
Zusammenkommen muss ja auch gar nicht ausbleiben. Nur eben nicht zur
pandemiemäßig ungünstigsten Zeit im Winter, mit schniefenden Nasen in
stickigen Innenräumen.
Es gibt Alternativen. Jede Familie könnte sich ihren eigenen Tag im Jahr
suchen, einen besonderen oder einen zufälligen, an dem sie sich trifft,
Zeit miteinander verbringt, Geschenke austauscht, feiert. Am besten im
Sommer, denn draußen feiert es sich in dieser Pandemie sicherer. Die
Weihnachtsfeiertage können dann weg, eh schwierig in einem eigentlich
säkularen Staat, dafür gibt’s dann zwei Urlaubstage mehr.
Familienurlaubstage.
Bis wir so weit sind, können wir zu unserem ersten Coronaweihnachten
einfach mal entspannen. Ich verbringe Weihnachten seit Jahren allein, und
es sind die stressfreiesten Tage des Jahres. Es ist dann kaum jemand in der
Stadt, den man treffen könnte, um mit ihr oder ihm Zeit zu verbringen. Ich
kann mich also gar nicht verplanen – und dadurch auch nichts verpassen. In
your face, Fomo („Fear of missing out“).
Der Tiefkühler wird vor den Feiertagen ordentlich beladen, Völlerei geht
auch allein. Und zum After-Dinner-Wein gibt’s meinen Lieblingsfilm, nicht
das, was irgendwer mit mehr Durchsetzungskraft gerade schauen will.
Außerdem ist es an den Weihnachtsfeiertagen einfach ruhig auf der Straße,
genauso wie das Telefon. Niemand ruft an, niemand schreibt Nachrichten. Und
das Beste: Niemand fragt nach Partner:innenwahl, Kinderplanung, Joberfolg.
Wer nicht das Hardcoreprogramm ganz allein fahren will, kann es sich an
diesem ersten Pandemieweihnachten auch im Rahmen des Möglichen mit anderen
jenseits der Kernfamilie gemütlich machen. Warum nicht mit der WG nebenan –
mit Abstand – die Tage verbringen? Mit dem älteren Ehepaar von schräg
obendrüber oder dem alleinerziehenden Elternteil mit Kind im ersten Stock?
Statt familiären Verpflichtungen nachzugehen, kann man stattdessen die
Menschen einladen, die sonst immer ganz allein und [3][womöglich einsam]
sind. Für sie könnte das Coronaweihnachten zum Vorteil werden, weil mehr
Menschen potenziell verfügbar sind. Kennt man die Menschen aus dem eigenen
Haus noch nicht, sind die Feiertage die ideale Gelegenheit, das
nachzuholen: Plätzchen backen, klingeln, überreichen. Und dann zum
Weihnachtsspaziergang am Nachmittag verabreden, dick eingepackt und mit
Sicherheitsabstand.
Andere soziale Kontakte kann es gerade in diesem Jahr auch geben. Wer die
Feiertage ohne Familie verbringt, muss keine (Verlegenheits-)Geschenke
kaufen, keine Wohnung putzen, kein aufwendiges Menü vorbereiten.
Weihnachtsmärkte fallen auch aus. Das entzerrt den ganzen Dezember. Es
bleibt mehr Zeit für die kontaktlose Kontaktaufnahme: statt Adventskalender
jeden Tag mit den Eltern telefonieren zum Beispiel. Oder mit der Großtante,
deren Mann im vergangenen Jahr gestorben ist. Oder mit dem Cousin, dem es
gerade nicht so gut geht.
Erst mal ist es ja nur dieses Jahr, in dem wir uns weihnachtsmäßig
voraussichtlich umstellen müssen. Ich glaube aber, das Modell wird Schule
machen. Die Menschen werden froh sein darüber, sich nicht mit überteuerten
Tickets in überfüllte Züge zu setzen, um dann müde und gestresst unter
einem Weihnachtsbaum zu sitzen.
Corona bietet uns die Chance, Weihnachten von all den Erwartungen zu
befreien, mit denen es besetzt ist. Dann wird es endlich wieder das, was es
eigentlich ist: ein Feiertag, an dem gläubige Christen die Geburt ihres
Erlösers feiern. Und alle anderen genau das machen, was sie wirklich
wollen.
15 Nov 2020
## LINKS
[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/282622/umfrage/umfrage-zum-s…
[2] https://yougov.de/news/2015/12/08/kartoffelsalat-und-wurst-heiligabend-esse…
[3] https://yougov.de/news/2020/11/05/die-halfte-der-deutschen-rechnet-mit-isol…
## AUTOREN
Christina Spitzmüller
## TAGS
Weihnachten
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Religion
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