| # taz.de -- Traditionen an Kinder weitergeben: Als würde man fremde Schuhe tra… | |
| > An Feiertagen wie Weihnachten steht man plötzlich vor seinen Kindern und | |
| > soll ihnen Traditionen beibringen. Nur was, wenn man keine hat? | |
| Bild: Es ist der vierte Advent und der Kürbis brüllt mich jeden Tag an | |
| Mein schlechtes Gewissen ist rund und orange. Es sitzt auf dem Fensterbrett | |
| in der Küche und wiegt eineinhalb Kilo. Es grüßt mich morgens, wenn ich | |
| aufstehe, und abends, wenn ich ein Glas Wasser hole. [1][Mein schlechtes | |
| Gewissen] ist ein Kürbis. Er liegt da seit Halloween. | |
| Es überfällt mich jedes Jahr wie ein ungebetener Gast. Ich mag kein | |
| Verkleiden, kein Erschrecken und keine Schauergeschichten. Ich erschrecke | |
| mich schon zu Tode, wenn jemand unangekündigt ins Zimmer kommt. Früher hab | |
| ich mich zu Halloween totgestellt, was eine total akzeptable Reaktion sein | |
| sollte. | |
| Doch seit ich Kinder habe, [2][zerreißt es mir das Herz], wenn andere | |
| Kinder draußen im Dunkeln stehen und bei den sich Totstellenden klingeln. | |
| Also krame ich jedes Mal hektisch im Küchenschrank oder schicke SMS an den | |
| Mann: „Haben wieder Halloween vergessen, kauf was.“ | |
| ## Total unvorbereitet | |
| Dieses Jahr wollte der Vierjährige selbst auf die Straße, weil er auf dem | |
| Heimweg Kinder gesehen hatte, die mit Erwachsenen und einem echten Pferd | |
| durch die Straße zogen. Ein verlässliches Zeichen, dass man wohlhabende | |
| Nachbarn hat. Wir waren total unvorbereitet. Auf das Pferd, aber auch auf | |
| Halloween. | |
| Also warf der Kleine zu Hause sein Hundekostüm über und da er selbst keine | |
| Süßigkeiten mag, gingen wir raus, um welche zu verteilen. Das fand er toll. | |
| Nur meinte er danach, dass er gern Kürbis schnitzen würde. Ich versprach, | |
| dass wir das nachholen. | |
| Jetzt ist der vierte Advent und der Kürbis brüllt mich jeden Tag an, was | |
| für eine schlechte Mutter ich bin. Ich entgegne, Halloween sei nicht meine | |
| Tradition. Doch was sind denn „meine Traditionen“? Früher machte ich, was | |
| andere sagten. Jetzt soll aber ich den Kindern sagen, was wir machen, und | |
| jedes Jahr zu Weihnachten fühlt es sich an, [3][als würde ich fremde | |
| Schuhe tragen]. | |
| Die einzige Tradition, die wir haben, ist, dass wir zuverlässig vergessen, | |
| einen Ökobaum zu mieten, und dann lange überlegen, ob es okay ist, gar | |
| keinen zu haben. Und dass der Große jedes Jahr zu Nikolaus einmal übermütig | |
| in eine Erdnuss samt Schale beißt. | |
| ## Ist das eine Lücke? | |
| Wie fremde Schuhe, die man trägt, weil man keine eigenen hat. Vielleicht | |
| liegt es daran, dass ich erst als Schulkind getauft wurde, nachdem ich mit | |
| fünf zu meinem Vater gezogen bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich aus | |
| der Kirche wieder ausgetreten bin. Vielleicht ist da eine Lücke, weil ich | |
| zum muslimischen Teil meiner Familie nie Kontakt hatte. Oder es liegt | |
| daran, dass das Jüdischsein meiner Familie mütterlicherseits kein Thema war | |
| und kaum darüber geredet wurde. Jüdische Traditionen gab es keine. | |
| Meine Mutter und Oma hatten generell nicht viel übrig für Konventionelles, | |
| und meine Urgroßmutter feierte, soweit ich das aus der Ferne erkennen | |
| konnte, Weihnachten. Ich frage mich bis heute, ob es nach der Shoah für sie | |
| zu schmerzhaft war, über ihr Jüdischsein zu sprechen. Und, ob sie sich zu | |
| Weihnachten auch fühlte, als würde sie fremde Schuhe tragen. | |
| 22 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Saskia Hödl | |
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