| # taz.de -- Pandemiekinder im Alltag: Verstehen oder verurteilen | |
| > Im Alltag mit Kindern wird man häufig mit der Meinung anderer | |
| > konfrontiert. Einige zeigen Verständnis, andere verurteilen Eltern | |
| > sofort. | |
| Bild: Jeder Mensch entscheidet selbst, ob er verurteilen will oder verstehen | |
| Letztens waren wir das erste Mal mit dem Baby im Restaurant. Der Kleine, | |
| der bald ein Jahr alt wird, musterte mit großen Augen den Raum. [1][Ein | |
| Pandemiebaby.] Er kennt keine Restaurants, keine Kindercafés, keine | |
| Krabbelgruppen, keine Menschenansammlungen. Vor ein paar Wochen sind wir | |
| zum zweiten Mal in seinem Leben Bus gefahren. Ich hatte ihn in der Trage, | |
| weil ich dachte, das wäre einfacher als mit dem Kinderwagen. War es nicht. | |
| Denn er fremdelt. Wenn ihm Fremde zu lange in die Augen gucken, heult er | |
| los wie eine Sirene. | |
| Also stand ich da im vollen Bus, das brüllende Baby an mich geschnallt, | |
| während Leute ihm mitleiderfüllt tief in die Augen sahen, was ihn nur dazu | |
| bewegte, tief Luft zu holen und eine Oktave höher und noch lauter zu | |
| brüllen. 15 Stationen. Mir klingelten die Ohren. Ich hab gesummt und | |
| gewippt, [2][aber ich war machtlos.] Überall Augen. Eine Frau sah mich an, | |
| als wäre ich die schlechteste Mutter der Welt. Ich lächelte sie an, sie sah | |
| weg. Nun gut, dachte ich, jeder Mensch entscheidet selbst, ob er | |
| verurteilen will [3][oder verstehen.] Auch da ist man machtlos. | |
| Wir sitzen also in diesem Restaurant und das Baby sieht staunend die | |
| Menschen an. Als ihm eine Frau freundlich zuwinkt, schicke ich lächelnd ein | |
| Stoßgebet ans Universum, dass das nicht endet wie im Bus. Der Vierjährige | |
| rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her und als der Kellner kommt | |
| platzt es viel zu laut aus ihm raus: „Ich will Nudeln mit Tomatensoße!“ Wir | |
| haben uns zuvor auf der Zeit-Hunger-Achse verkalkuliert, weshalb er schon | |
| bockig war, während wir noch in der Sonne spazieren wollten. Dann hat er | |
| sich mit dem Radlenker auch noch in einen Maschendrahtzaun gefädelt und ist | |
| im Matsch gelandet, die Stimmung auf dem Tiefpunkt. | |
| Also ab ins Restaurant. Wir hatten kein Buch dabei, keine Malsachen, kein | |
| Tablet. Wie blutige Anfänger. Zum Glück hatte der nette Kellner ein Malbuch | |
| und ein paar Stifte, so war der Vierjährige – bevor und nachdem er die | |
| Nudeln eingeatmet hat – beschäftigt und wir konnten einen Moment | |
| verschnaufen. Ich saß da und dachte, wie sehr ich das vermisst habe. | |
| An diesen Moment musste ich vor einigen Tagen denken, als ich auf Instagram | |
| einen Ausschnitt der Talkshow „deep und deutlich“ sah. Da echauffierte sich | |
| der Comedian Faisal Kawusi, [4][Kinder würden heute in Restaurants alle an | |
| Tablets hängen] und sogar auf dem Spielplatz einen Helm tragen. Das ist | |
| insofern bemerkenswert, weil Eltern in wenigen Minuten gleichzeitig | |
| pauschal verurteilt werden, weil sie sich nicht um ihre Kinder kümmern | |
| (Verwahrlosung am Tablet) und weil sie sich zu sehr kümmern (Helm auf dem | |
| Spielplatz). | |
| Hätte er sich damit beschäftigt, wüsste er, dass Helme auf Spielplätzen | |
| eigentlich verboten sind, weil Kinder so beim Toben mit dem Kopf hängen | |
| bleiben könnten und, dass es Kinder gibt, die dennoch einen tragen müssen. | |
| Aber es ist natürlich viel schnittiger zu verurteilen, anstatt zu | |
| verstehen. Da ist man machtlos. | |
| 1 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Saskia Hödl | |
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