Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gewerkschaftlerin über Gastro-Jobs: „Es geht nicht Monate so wei…
> Beschäftigte der Gaststätten können von Kurzarbeit nicht leben, warnt
> Gewerkschaftlerin Silke Kettner. Die Zeit sollte für Bildung genutzt
> werden.
Bild: Protestaktion am 19. November: Beschäftigte aus dem Gaststättengewerbe …
taz: Frau Kettner, wie ist die Lage der Beschäftigen in Hotels und
Gastronomie derzeit?
Silke Kettner: Die ist mehr als bescheiden. Die meisten sind seit März in
Kurzarbeit und wissen nicht mehr, wie sie ihr Leben finanzieren sollen.
[1][In der Gastronomie] verdienen die Leute unter normalen Umständen schon
zu wenig, als dass es gerade in einer Stadt wie Hamburg für ein
vernünftiges Leben reicht. Seit März müssen sie mit bis zu 40 Prozent
weniger Geld klarkommen. Das sind für viele unter 1.000 Euro. Das haut
natürlich nicht hin.
Von wie viel Beschäftigten sprechen wir hier?
Allein in Hamburg sind es circa 55.000.
Nun gibt es die November- hilfen, die den Firmen 75 Prozent des
Vorjahresumsatzes ersetzen. Könnten die jetzt nicht volle Löhne zahlen?
Sind die Betriebe zu, können keine vollen Löhne gezahlt werden, dafür gibt
es die Kurzarbeit. Man hätte aber die Hilfsgelder daran koppeln können,
dass hiervon auch etwas den Beschäftigten zugute kommt. Zum Beispiel in
Form von Zuschüssen zum Kurzarbeitergeld. Es ist gut, dass Betriebe
unterstützt werden. Es kam aber vieles von den Hilfsgeldern noch gar nicht
an. Und wenn es dort ankommt, heißt es noch nicht, dass es bei den
Beschäftigten landet. Weitaus der größte Teil lebt rein vom
Kurzarbeitergeld ohne weitere Zuschüsse vom Betrieb.
Was können die dann tun?
Sie müssen zum Jobcenter, Sozialleistungen beantragen, aufstockend Hartz
IV, also Arbeitslosengeld II. Oder, wenn sie dort von den Voraussetzungen
her nicht reinpassen, können sie Wohngeld beantragen. Ansonsten müssen sie
sich irgendwie über Wasser halten. Die Politik rechnet mit mehr
Überschuldungen von Privathaushalten, weshalb man jetzt die
Schuldnerberatung ausbaut. Aber wenn Haushalte strukturell zu wenig Geld
haben, dann kann man das auch nicht wegberaten.
Ihre [2][Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten] (NGG) appellierte jüngst
an die Betriebe: Die sollen jetzt das neue Qualifizierungschancengesetz
nutzen. Was bietet das Gesetz?
Das Gesetz ist seit 2019 in Kraft und bietet hohe Zuschüsse für
Qualifizierungmaßnahmen von Beschäftigten. Wir haben jetzt, wo die meisten
Betriebe zu sind oder nur eingeschränkt arbeiten, die Chance, Beschäftigte
weiterzubilden. Das heißt, sie in ihren Fachgebieten schlauer zu machen
oder sie in Bezug auf Buchhaltung, Personalwesen, Schicht- und
Einsatzplanung et cetera zu stärken. Es gibt viele staatliche Zuschüsse
dafür.
In welcher Form?
Die Arbeitsagentur kann die kompletten Weiterbildungskosten tragen und
zusätzlich Lohnausfallkosten zahlen, in der der Mitarbeiter wegen dieser
Maßnahme ausfällt. Die Kurzarbeit ist die Chance, um hier etwas für
Qualifizierung zu tun.
Und das passiert nicht?
Es passiert bislang nur sehr eingeschränkt, wie man an Hamburg sieht. Hier
wurden über alle Branchen, seit 2019 das Gesetz in Kraft trat, nur 606
Menschen überhaupt gefördert. Das ist sehr ernüchternd.
Wissen Sie, warum die Betriebe es nicht nutzen?
Es sind Hürden damit verbunden. Die Gastronomie ist eben eine Branche mit
sehr vielen kleinen inhabergeführten Firmen. Und dann auch noch Leute in
Weiterbildung zu schicken, ist ein hoher bürokratischer Aufwand. Jetzt,
aktuell im Coronajahr müssen viele Hilfsgelder beantragen und irgendwie
ihren Laden aufrecht erhalten. Da wäre es sehr sinnvoll, wenn es hier
niedrigschwellige Angebote für die Betriebe gäbe, damit Weiterbildung in
dieser Zeit passiert. Ein anderer Grund, weshalb das jetzt nicht geschieht,
ist: Haben die Betriebe höher qualifiziertes Personal, müssen sie die nach
der Pandemie auch besser bezahlen. Da schrecken einige vor zurück.
Wie sehen die Hürden denn genau aus?
Es muss beantragt werden, es müssen Kurse gefunden werden, es müssen
Programme geschrieben werden, es muss überhaupt der Antrag laufen, damit
diese Zuschüsse fließen können. Das ist Arbeit. Wenn es nur einen Inhaber
gibt, der alles tun muss, dann ist das eine Hürde.
Fehlt ein gezieltes Angebot seitens der Arbeitsagentur?
Weiterbildung wird in der Regel von externen Bildungsträgern durchgeführt.
Ich weiß, dass es Anbieter gibt, die Angebote planen. Aber das dauert
leider. Wir müssten jetzt Angebote parat haben. Wenn man über
gastronomiespezifische Weiterbildung spricht, dann geht es zum Beispiel um
Weinkunde, also um Weiterbildung zum Sommelier oder Barista, um nur zwei
Beispiele zu nennen. Das sind sehr passgenaue Angebote, die gut wären und
die es auch gibt. Aber die niedrigen Zahlen sprechen dafür, dass da
irgendwo was nicht ganz passt und Angebot und Nachfrage nicht zueinander
kommen.
Bietet sich Gastronomie überhaupt als Feld für Weiterbildung an? Der Laie
denkt, wenn man erst mal bedienen kann, dann kann man das.
Da gibt es ganz viel Bedarf. Wenn man unten anfängt, kann man alle eine
Stufe höher qualifizieren. Einen Tellerwäscher kann man zu einer
Servicekraft ausbilden. Man kann eine Küchenhilfe weiterbilden, damit sie
qualifiziertere Arbeitsschritte bewältigt. Man kann in Richtig Warenkunde
was machen wie Sommelier- oder Barista-Schulungen oder Whisky-Tasting. Man
kann das ganze Administrative machen, also zum Beispiel Buchhaltung oder
Personalkunde. Es wäre auch eine gute Sache, Mitarbeiter in Schicht- und
Arbeitszeitplanung weiterzubilden, dann hätte die Branche nach der Pandemie
vielleicht eine Chance, ihr Problem mit überlangen Arbeitszeiten und
unbezahlten Überstunden in den Griff zu kriegen.
Fehlt es an Bildungsträgern, die das anbieten?
Ich weiß eben nicht, ob die Träger und Unternehmen so richtig zueinander
kommen. Das ist nicht nur ein Problem dieser Branche. Aber in der
Gastronomie gibt es die Tendenz, das gar nicht oder nur partiell den
Beschäftigten anzubieten. Weil, wie gesagt, höher qualifiziertes Personal
muss man auch höher bezahlen. Da die Branche durch stark ausgeprägten
Niedriglohn gekennzeichnet ist, schrecken Arbeitgeber davor zurück.
Können Beschäftigte von sich aus Weiterbildung während der Kurzarbeit
einfordern?
Das wird schwierig, weil man von den Betrieben freigestellt werden muss.
Man braucht eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber, wenn es während der
eigentlichen Arbeitszeit stattfinden soll. Wir wissen erstens nicht, wie
lange die Kurzarbeit noch geht. Zweitens haben viele Betriebe auch jetzt
noch Lieferservice, es gibt Hotels, die gar nicht geschlossen sind, weil
sie Geschäftskunden haben. Beschäftigte können nicht sagen, ich steh’ jetzt
sechs Wochen überhaupt nicht zur Verfügung, weil ich hier gerade einen Kurs
mache. Und letztendlich können ja die Betriebe die Zuschüsse für die
Lohnkosten bekommen. Diese Zuschüsse sind für Unternehmen gedacht.
Gibt es auch Menschen, die in Kurzarbeit nicht arbeiten?
Natürlich. Gerade in den Gaststätten gibt es seit November für die Leute
überhaupt nichts zu tun. Da ist das meiste „Kurzarbeit null“, die arbeiten
gar nicht, bis hin zu einer nur gering verkürzten Arbeitszeit. Aber ein
Großteil ist tatsächlich auf null.
Ausblick auf 2021: Was muss passieren?
Wir brauchen ein Konzept, wie es weitergeht. Dass man mit dem Lockdown
versucht, die Infektionszahlen zu brechen, klar, ist nachvollziehbar. Aber
es kann nicht Monate so weitergehen. Was passiert, wenn die Pandemie nicht
so schnell in den Griff zu kriegen ist? Und das andere ist: Wenn man so
einen Lockdown macht und Branchen schließt, muss man das sozial absichern.
Es geht nicht, dass es nur Hilfsgelder für Betriebe gibt, aber die
Beschäftigten im Regen stehen. Wir brauchen finanzielle Hilfe, damit diese
Situation durchzuhalten ist.
Ein Gehalt vom Staat?
Wir fordern ein Mindestkurzarbeitergeld. Man muss wissen, dass das
Kurzarbeitergeld von den Beschäftigten selbst finanziert ist. Die zahlen ja
dafür in die Arbeitslosenversicherung ein. Und die Kurzarbeit ist eine
Leistung der Agentur für Arbeit. Das ist selbst finanziert, es sind keine
staatlichen Gelder, die da gezahlt werden. Und das reicht einfach nicht bei
dem Einkommen, das viele haben. Wir brauchen eine Mindestabsicherung, damit
zumindest Fixkosten und ein Leben zu finanzieren sind. Und was wir auch
fordern, ist Corona-Soforthilfe von 1.000 Euro pro
Kurzarbeits-Beschäftigtem.
Also 1.000 Euro oben drauf?
Genau. Also eine einmalige Geschichte. Das kostet für ganz Deutschland 600
Millionen Euro, im Vergleich dazu sind die Unternehmenshilfen bei 17
Milliarden Euro. Das ist doch von der Relation her machbar.
Sie haben mit Löffeln protestiert?
Ja, wir haben von unseren Mitgliedern 600 Löffel gesammelt und sie am 19.
November unter dem Motto „Wir müssen den Löffel abgeben“ am Rathaus
abgegeben. Wir fordern eine bessere finanzielle Absicherung in der Krise.
Wir wollten mit den Löffeln wegen Corona mit wenig Leuten zeigen, dass
viele dahinter stehen.
Und was sagte man dort?
Es hat eine sehr freundliche Dame vom Bürgerbüro unsere Forderungen
entgegengenommen. Keiner von den politischen Entscheidungsträgern. Und
gesagt hat man uns dazu bisher gar nichts.
8 Dec 2020
## LINKS
[1] /Krise-der-Gastronomie-in-der-Provinz/!5729105
[2] https://nord.ngg.net/regionen/hamburg-elmshorn/
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Weiterbildung
Gewerkschaft NGG
Gastronomie
Schwerpunkt Coronavirus
Soziales
Hamburg
Schwerpunkt Coronavirus
Arbeitsmarkt
Niedriglohn
Protokoll Arbeit und Corona
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jobmarkt und Ausbildung: Jung, gesund, ausbeutbar
Eine OECD-Studie fordert bessere Förderung von Geringqualifizierten.
Zugewanderte und Geflüchtete haben dabei besondere Problemlagen.
Niedriglöhne und Arbeitsmarkt: Sortierer leben bescheiden
Fast ein Fünftel der Vollzeitbeschäftigten verdient weniger als 1.580 Euro
netto – oft in der privaten Dienstleistung. Der Ausländeranteil ist hoch.
Einkommensverluste in Bremen 2020: Pandemie nimmt’s von den Armen
Eine Studie der Arbeitnehmerkammer zeigt, dass Ungelernte besonders viel
Lohn verloren haben. Das Durchschnittsgehalt in Bremen ist aber eher hoch.
Krise der Gastronomie in der Provinz: Hoffen, hoffen, hoffen
Die Gaststätte „Sonne“ ist dicht. Das Ehepaar Reichert hält sich mit
Essenslieferungen über Wasser. Zu Besuch bei einer am Boden liegenden
Branche.
Studie zu Corona in der Gastronomie: Risikoort Restaurant
Eine US-Studie zeigt, dass Restaurants ein erhebliches Ansteckungsrisiko
bergen könnten. Ärmere sind beim Einkaufen besonders gefährdet.
Kontaktdaten in der Gastronomie: Prost – und Daten her!
Gäste, die Falschangaben im Restaurant machen, und Wirte, die das nicht
kontrollieren, sollen zur Kasse gebeten werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.