| # taz.de -- Weltweiter Rechtspopulismus: Eher Fluss als Welle | |
| > Die Wahlniederlage von US-Präsident Donald Trump ist ein weiterer | |
| > Misserfolg für rechtspopulistische Kräfte im Westen. Ebbt jetzt die Welle | |
| > ab? | |
| Bild: Leerer Schreibtisch und Trumps roter Stuhl. Washington, D.C., im Dezember | |
| Als die Chefin des französischen Front National Marine Le Pen im Januar | |
| 2017 auf die Bühne des „Europa der Nationen und der Freiheit“-Kongresses in | |
| Koblenz trat, hätte man denken können, dort rede eine Kult-Anführerin: „Wir | |
| beobachten das Ende der alten Welt und die Geburt einer neuen Welt“, sagte | |
| sie. Das Publikum aus Anhänger:innen aller wichtigen europäischen | |
| rechtspopulistischen Parteien jubelte. „Es ist eine historische Wende“, | |
| sagte Le Pen: Das Ergebnis des Brexit-Referendums und Donald Trumps Erfolg | |
| bei der US-Präsidentschaftswahl würden bald eine seismische Welle auslösen, | |
| die die Parteien der „alten Welt“ wie Dominosteine stürzen lassen würde. | |
| In den folgenden Monaten ritten antiliberale, Anti-EU-, Anti-Islam-, | |
| Anti-Einwanderung-Parteien diese Erfolgswelle. Die AfD zog als erste Partei | |
| rechts von CDU/CSU in den Bundestag ein. Kurz danach bildete FPÖ-Chef | |
| Heinz-Christian Strache eine Koalition mit der ÖVP von Sebastian Kurz. | |
| Sechs Monate später unterzeichnete Matteo Salvini in Italien einen | |
| Regierungsvertrag mit der Fünf-Sterne-Bewegung. Im Frühjahr 2019 waren in | |
| acht EU-Mitgliedstaaten Parteien an der Macht, die als rechtspopulistisch | |
| gelten. | |
| Die Welle überrollte nicht nur Europa: Innerhalb von drei Jahren schien die | |
| Welt von den Philippinen über Indien bis Brasilien auf einmal von | |
| populistischen Autokraten dominiert zu sein, die wenig vom Rechtsstaat | |
| halten – und noch weniger von Minderheiten, Frauen, LGBTQI-Personen und | |
| Andersdenkenden. | |
| Doch dann, einen Tag vor dem zweiten großen Gipfel der europäischen | |
| Rechtspopulisten im Mai 2019, meldeten Medien, dass FPÖ-Chef Strache in | |
| einen Korruptionsskandal verwickelt war – den berüchtigten Ibiza-Skandal. | |
| Kurz danach brach die blau-türkise Regierung in Wien zusammen. Bei der | |
| Europawahl schnitten die Nationalpopulisten deutlich schlechter als | |
| erwartet ab. Wenige Monate später musste auch Salvini seinen Platz als | |
| Innenminister räumen. [1][Jetzt hat auch Trump sein Amt verloren]. | |
| Ebbt also die national-populistische Welle ab? Die Frage lasse sich so | |
| nicht beantworten, sagte der Politikwissenschaftler Aristotle Kallis. Es | |
| mag stimmen, dass rechtspopulistische Kräfte in Europa weniger im | |
| Scheinwerferlicht stehen. Das liege allerdings vor allem daran, dass die | |
| Pandemie viele ihrer Lieblingsthemen wie etwa Einwanderung und Sicherheit | |
| überschattet hat. Man könne aber nicht sagen, dass die Welle abebbt. Weil | |
| es vermutlich nie eine Welle gab. | |
| „Wir mögen die Vorstellung, dass die Weltgeschichte von verschiedenen | |
| ‚Wellen‘ bestimmt ist: die Welle des Autoritarismus, die Welle der | |
| Demokratisierung, die Welle der Globalisierung“, so Kallis. Die Idee würde | |
| helfen, Ordnung im Chaos der Weltgeschichte zu schaffen, den Ereignissen | |
| eine gewisse Sinnhaftigkeit verleihen, als wären sie Teil eines längeren | |
| Prozesses. | |
| Phänomene wie der Aufstieg antiliberaler Parteien in den vergangenen Jahren | |
| sind aber keine Welle, die aufbrandet und abebbt. Sie sind eher wie ein | |
| Fluss, der durch die Gegenwart fließt und dabei Politik, Institutionen | |
| sowie Sprache und Denkmuster prägt, sagt Kallis. | |
| Dieser Einfluss lasse sich nur bedingt anhand von Wahlergebnissen und | |
| Umfragewerten messen. Man erkennt ihn eher daran, dass sich die Stichpunkte | |
| in den Reden von gemäßigten Politiker:innen – rechts und links – inzwisch… | |
| kaum von denen von Populisten unterscheiden: Sicherheit, Kriminalität, | |
| Grenzkontrollen, Terror. | |
| Die [2][FPÖ mag nicht mehr in Wien regieren], doch ohne ihre Kampagnen | |
| gegen Muslim:innen in Österreich wäre nicht denkbar, dass Bundeskanzler | |
| Kurz heute davon spricht, den politischen Islam als solchen strafbar zu | |
| machen. Und Salvini kann zwar nicht mehr als Innenminister seine | |
| Null-Toleranz-Politik gegen Seenotretter im Mittelmeer vorantreiben. | |
| Trotzdem werden Schiffe von Seenotrettern nach wie vor von den | |
| italienischen Behörden beschlagnahmt. | |
| Und auch wenn [3][Trump im Januar das Weiße Haus verlässt, wird er weiter | |
| Einfluss auf die US-Politik haben]. Seine Versuche, das Wahlsystem zu | |
| diskreditieren, wirken: Mehr als die Hälfte der republikanischen | |
| Wähler:innen glauben nicht daran, dass die Präsidentschaftswahl korrekt | |
| abgelaufen ist – das sind knapp 40 Millionen Menschen. | |
| Trumps verzweifelter Versuch, das Wahlergebnis anzufechten, dient nicht | |
| dazu, das Ergebnis zu ändern, sondern dazu, das bestehende Misstrauen | |
| gegenüber den demokratischen Institutionen zu verstärken. Wie effektiv | |
| diese Strategie ist, kann man in rechtskonservativen sozialen Medien wie | |
| Parler beobachten, wo Trump-Anhänger:innen Fotos mit Waffen posten – und | |
| dem Hashtag #civilwar. | |
| Die liberale Demokratie, die aus der Asche des Zweiten Weltkriegs | |
| hervorging, galt lange als Fels in der Brandung. In den vergangenen Jahren | |
| zeigte sie sich fragiler als angenommen. Laut einer Umfrage des Pew | |
| Research Center Anfang des Jahres ist die Mehrheit der Bevölkerung in | |
| vielen Ländern unzufrieden damit, wie die Demokratie bei ihnen | |
| funktioniert. In Italien, Spanien und Großbritannien sind das fast 70 | |
| Prozent der Befragten. In Griechenland 75 Prozent. | |
| Diese Unzufriedenheit ist der Nährboden, in dem auch aktuelle | |
| Verschwörungsnarrative der Covid-Leugner und Deep-State-Propheten gedeihen. | |
| Darin besteht wahrscheinlich die größte Errungenschaft der | |
| Rechtspopulisten: dass sehr viele Menschen ihr Vertrauen in das kollektive | |
| „Wir“ des demokratischen Staates verloren haben – und zunehmend in eigene | |
| Welten flüchten, die ihren Werten, Ängsten und Hoffnungen entsprechen. | |
| Der Rechtspopulismus mag keine Welle sein, die den Felsen der liberalen | |
| Demokratie stürzen kann. Er ist eher ein unterirdischer Fluss, der ihre | |
| Fundamente allmählich erodiert. | |
| 10 Dec 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabio Ghelli | |
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