# taz.de -- Städtische Galerie Wolfsburg: Lakonie und globale Katastrophen | |
> Die Künstlerin als Expertin für multiples Desaster: Birgit Brenner ist | |
> die Trägerin des Wolfsburger Kunstpreises „Junge Stadt sieht junge | |
> Kunst“. | |
Bild: Installation von Birgit Brenner: „Promises and other Lies“ in der St�… | |
Im Januar wurde der Zeiger der Doomsday Clock, der Atomkriegs- oder | |
Weltuntergangsuhr, von zwei Minuten auf nur noch 100 Sekunden vor zwölf neu | |
justiert. Diese symbolische Uhr des Bulletin of the Atomic Scientists zeigt | |
seit 1947 an, wie groß das aktuelle Risiko einer globalen Katastrophe | |
eingeschätzt wird. | |
Dafür bewertet ein Wissenschaftsrat die weltweiten Bedrohungsszenarien: zu | |
Beginn durch nukleare Aufrüstung, seit Neuerem auch durch Klimawandel und | |
Informationskriegsführung. Allerdings blendet die Uhr noch die | |
Coronapandemie aus, vielleicht müsste gegenwärtig der Zeiger ja noch einige | |
Sekunden näher ans Zeitenende gerückt werden. | |
[1][Für Birgit Brenner, die Ende 2019 nominierte Trägerin des Wolfsburger | |
Kunstpreises] „Junge Stadt sieht junge Kunst“, war diese Tatsache Anlass, | |
eine neue Arbeit zu konzipieren, die nun im Wolfsburger Schloss in ihrer | |
Ausstellung als Preisträgerin zu sehen ist. | |
## Noch hundert Sekunden bis zum Weltuntergang | |
In ihrer Filmarbeit „Hundred Seconds to Midnight“, erstellt in | |
Stop-Motion-Technik anhand gezeichneter Bilder, lässt sie ihre | |
Protagonist*innen beiderlei Geschlechts, unterschiedlichen Alters und | |
sozialer Herkunft als vereinzelte Tänzer*innen agieren. Eine simple rote | |
Linie, ausgehend von Wangenknochen und Ellenbogen, hält die Solist:innen | |
wie fremdgesteuerte Marionetten zusammen. | |
Zwischen den stroboskopartigen Bildfolgen, die nicht wie im klassischen | |
Trickfilm auf visuelle Kontinuität abzielen, sondern bewusst auf einen | |
fraktalen Rhythmus, blitzen Flammen auf, ein schnelles Auto oder ein Jäger, | |
der auf ein Reh anlegt. Diese zumindest ambivalenten, wenn nicht | |
bedrohlichen Geschehnisse des knapp vierminütigen Videos begleiten ein | |
verstörender Sound sowie ein zweites, eigens für die Wolfsburger | |
Ausstellung produziertes Filmwerk, „Shifting Baselines“. | |
Dafür zeichnete Brenner Bilder aus der Kunstgeschichte oder unserem | |
kollektiven Gedächtnis, so auch das umstrittene Fotomotiv des sich aus 400 | |
Meter Höhe verzweifelt aus dem Fenster stürzenden Mannes, als das World | |
Trade Center nach den Terrorangriffen am 11. September 2001 zur brennenden | |
Falle wurde. | |
## Im Septembre 2001 als Stipendiatin in New York | |
Birgit Brenner, 1964 in Ulm geboren, hat nach dem Studium des Grafikdesign | |
an der Fachhochschule Darmstadt in Berlin Kunst studiert, schloss dort 1996 | |
als Meisterschülerin von Rebecca Horn ab. Genau zum September 2001 trat sie | |
dann in New York ihr Atelier-Stipendium im MoMA PS 1 an, sie wurde somit | |
Zeugin der lokalen Traumata durch den Terrorakt. | |
Von September 2019 bis in den Juni dieses Jahres war sie Stipendiatin in | |
der Villa Massimo in Rom. Also erlebte sie hier im Frühjahr die verordnete | |
Isolation nach dem heftigen Corona-Ausbruch in Italien. | |
Brenner scheint somit Expertin für multiple Katastrophen zu sein. Aber als | |
Künstlerin weiß sie natürlich, professionelle Distanz zu wahren und | |
Ereignisse zu verarbeiten, statt sie nur zu illustrieren. So lehnt sie auch | |
vehement ab, ihre Arbeit auf Biografisches zu reduzieren. Gleichwohl | |
versucht sie, für Problemlagen des Weltgeschehens oder universelle Ängste | |
der menschlichen Existenz kleine, personalisierte Geschichten zu erfinden. | |
## Die Sammlung „schöner Sätze“ | |
Zu ihrer Erzählmethode gehören nicht nur statische oder animierte | |
Zeichnungen, Collagen, Assemblagen und große Installationen, sondern auch | |
Worte und kurze Texte. Diese sammelt sie regelrecht. Sie pflegt eine Datei | |
„Schöne Sätze“, in der sie alles notiert, was ihr im Alltag, aber auch in | |
der Literatur oder während systematischer Recherchen unterkommt. Dieser | |
intuitiv zusammengestellte Fundus, ähnlich dem klassischen Skizzenbuch | |
eines Malers, reißt häufig schon Themen an, wie sie bemerkt, wenn sie | |
später darauf zurückgreift. | |
In Wolfsburg kann Birgit Brenner ihr ganzes Können in drei großen Sälen | |
demonstrieren. Sie hat dafür eine Inszenierung erdacht, die mit den zwei | |
kurzen Filmarbeiten eine hektische, fast quälende Unruhe im ersten Raum | |
erzeugt. Den zweiten Raum durchfährt ihre neue, raumsprengende zwölfeinhalb | |
Meter lange Installation „Promises and other Lies“. In ihr finden sich | |
Bildmotive der Filme wieder, ein angeschossenes Reh, stürzende | |
Menschenkörper, ein martialisches Auto, Zacken und Flammen. | |
Motivisch ein „Jüngstes Gericht“, die tragenden Themen und stabilisierenden | |
Konstruktionen aus schwarzem Stahl gefertigt, kommt der eine Tonne schwere | |
Gesamtaufbau jedoch mit der flüchtigen Leichtigkeit ihrer Zeichnungen | |
daher. Selbst bedrohlichen Aspekten unserer Zivilisation scheint Brenner | |
mit der lakonischen Beiläufigkeit eines „Never Mind“ – schon gut, macht | |
nichts – begegnen zu können, wie spiegelverkehrt, oder von der Rückseite | |
betrachtet, zu lesen ist. | |
## Die menschliche Suche nach dem Glück | |
Im dritten Raum ist der 35-minütige Film „Sonne. Sommer. Sicherheit“ zu | |
sehen, wieder als Stop-Motion aus einer Unmenge Zeichnungen erstellt, die | |
Brenner selbst gar nicht zu beziffern weiß. Er erzählt in drei Episoden von | |
der menschlichen Suche nach Glück und Erfüllung – stets zum Scheitern | |
verurteilt. | |
In der Projektion lehnt ein Schild „Nicht im Bild: Zukunft“. Es stammt aus | |
Brenners erster Ausstellung in Wolfsburg, 2006 im Verein für junge Kunst. | |
Wenn der nun verliehene Kunstpreis neuerlich von „junger Kunst“ spricht, | |
stimmt das nur noch bedingt. Birgit Brenner kann auf drei Jahrzehnte | |
Kunstpraxis verweisen, ist seit 2007 Professorin in Stuttgart. Der seit | |
1959 vergebene Preis ist seit Langem schon die Würdigung zur Mitte einer | |
Karriere. Brenner sieht ihn als Bestätigung, „weiter machen zu dürfen“. | |
22 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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