# taz.de -- Fotobuch und Ausstellung „Behelfsheim“: Aussterbende Provisorien | |
> Die Hamburger Fotografen Enver Hirsch und Philipp Meuser würdigen die | |
> verschwindenden Behelfsheime der Nachkriegszeit in einem Fotobuch. | |
Bild: Bedrohte, aber berechtigte Wohnform in einer vielfältigen Stadt: Behelfs… | |
Mitten im Sommer 2018 lancierte Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung | |
einen polemischen Artikel: Unter der Überschrift [1][„Laube, Liebe, | |
Wahnsinn“] wies der für Architektur zuständige Redakteur darauf hin, dass | |
in der Bundesrepublik 900.000 Menschen das Privileg eines Schrebergartens | |
genössen. | |
Deren Flächen, oft in guten innerstädtischen Lagen, wären zusammengenommen | |
so groß wie Köln – würden aber dem Wohnungsmarkt entzogen, während | |
allenthalben in den Städten Wohnungsnot zu beklagen sei. Matzigs Antwort | |
darauf: Her mit den bislang unangetasteten Ressourcen, auf dass sie | |
Grundflächen werden für weiteren, städtisch verdichteten Wohnungsbau. | |
Kaum überraschend, hagelte es Leser:innenreaktionen, die neben einem | |
ökologischen Wert für die Stadt besonders den sozialen Aspekt der | |
Schrebergärten betonten. Denn die vermeintlich so Privilegierten, das seien | |
ja zumeist Menschen mit geringem Einkommen, ohne eigenen Grundbesitz. | |
Schrebergärten sind für sie und ihren Familien Orte der Erholung, Ersatz | |
für einen Sommerurlaub und für ihre Kinder Erlebnisräume in der Natur: Das | |
schrieb etwa eine Leserin aus Hamburg. | |
Die Stadt scheint eine Hochburg der Schrebergärtnerei zu sein. Der Verein | |
[2][„Horner Marsch“] etwa rühmt sich, europaweit einer der größten | |
Kleingartenvereine zu sein: 1.000 Parzellen, davon rund 145 immer noch von | |
sogenannten „Festbewohnern“ belegt. Oder die benachbarte, 1907 aufgespülte, | |
38 Hektar große [3][Billerhuder Insel]: Sie ist seit Jahrzehnten als | |
Vorhaltefläche für Wohnen oder Industrie ausgewiesen, ihre | |
Kleingartennutzung, etwa 500 Parzellen, scheint bislang jedoch sakrosankt. | |
Über „Festbewohner“ äußert man sich dort nicht, in ganz Hamburg soll es | |
aber noch einige Hundert ehemalige, irgendwann dauerhaft bewohnte | |
Provisorien geben – nicht nur in Schrebergärten. Sie sind Relikte aus den | |
Jahren von 1943 bis weit nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als Ausgebombte | |
oder Geflüchtete in selbst errichteten Kleinst-Eigenheimen Obdach fanden. | |
Derartige Notprogramme haben aber eine längere Tradition. In Deutschland | |
etwa waren sie in den frühen 1920er-Jahren und während der | |
Weltwirtschaftskrise ab 1929 Bestandteil auch wissenschaftlicher | |
Untersuchungen: zum Wohnen für das Existenzminimum, zu sozialer | |
Programmierung und rationeller Vorfertigung von Wohnraum. Im progressiven | |
Altona etwa entstanden ambitionierte Erwerbslosensiedlungen – aber auch | |
Selbsthilfeunterkünfte aus Abfallmaterial wie die „Fischkistensiedlung“ im | |
heutigen Hamburger Stadtteil Lurup. | |
In Berlin organisierte der damalige Stadtbaurat Martin Wagner 1931 den | |
Architektenwettbewerb [4][„Das wachsende Haus“], übrigens unter prominenter | |
Beteiligung, mit anschließender Ausstellung von 24 Musterbauten: Stets | |
bildet ein funktionsfähiges Kleinsthaus den Nukleus, weitere Räume können | |
nach Bedarf ergänzt werden. Das Ganze umgibt ein auch der Selbstversorgung | |
dienendes Gartenland ausreichender Größe. | |
Diese theoretische Basisarbeit nutzte das NS-Regime, als ab 1941 die | |
Luftangriffe der Alliierten mit immer größerer Zerstörungskraft den | |
Wohnungsbestand trafen. Allein während der sieben Luftangriffe der | |
„Operation Gomorrha“ zwischen dem 25. Juli und dem 3. August 1943 wurde die | |
Hälfte des Hamburger Wohnungsbestandes zerstört, 750.000 Menschen waren | |
danach obdachlos. | |
Aber das ideologisch von eindringlicher Kriegsrhetorik begleitete Programm | |
der NS-Behelfsheime, für das eigens das „Deutsche Wohnungshilfswerk“ (DWH) | |
gegründet wurde, war letztlich zum Scheitern verurteilt: Es mangelte nicht | |
nur an Baumaterial und verfügbarem Grund und Boden, sondern auch an | |
„Humanressourcen“ zum Selbstbau. Denn die Männer waren an der Front, die | |
Frauen brauchte die Rüstungsindustrie. | |
So weist eine Erhebung für das Jahr 1949 in Hamburg nur etwa 3.600 | |
offizielle Behelfsheime vom DWH aus, dafür rund 45.000 aus der | |
Nachkriegszeit. Auch sie konnten mit vereinfachter – oder wohl ganz ohne – | |
Genehmigung errichtet werden, ein Nutzungsrecht war zeitlich unbeschränkt. | |
Dem im Stadtbild verbliebenen Rest dieser Wohnform haben die Fotografen | |
[5][Enver Hirsch] und [6][Philipp Meuser], beide 1968 in Hamburg geboren, | |
seit über zwei Jahren nachgespürt. Sie arbeiten dokumentarisch, hatten als | |
Off-Beitrag zur Foto-Triennale 2018 die Gruppenausstellung „Sightseeing the | |
Real“ mitveranstaltet, schon mit Vorschau auf ihr nun in Buchform | |
gebrachtes Projekt „Behelfsheim“. Anders als viele Kolleg:innen in der | |
Dokumentarfotografie wollten sich beide nicht immer nur exotischen Themen | |
in fernen Ländern widmen, sondern ihre Beschäftigung mit autonomem Wohnen – | |
Philipp Meuser – sowie Provisorien – Enver Hirsch – bündeln und vor Ort | |
realisieren. | |
## Plädoyer für vielfältiges Wohnen | |
Ihr Buch ist aber mehr als eine fotografische Bestandsaufnahme pittoresker | |
Baurelikte: Hirsch und Meuser plädieren für ein anderes Verständnis von | |
Stadt und Wohnen. Viele der vormaligen Behelfsheime haben sich zu | |
stattlichen Wohnsitzen gemausert, es wurde angebaut und aufgestockt, was | |
das Herz begehrt. Meuser sieht sie als aktuell – nicht nur in Hamburg – | |
bedrohte, aber berechtigte Wohnform in einer vielfältigen Stadt, die mehr | |
bieten muss als die Wahl zwischen Geschosswohnungsbau und unerschwinglicher | |
Elbvilla. | |
So fällt der Blick auf so manch ungefüges Detail dieser baulichen | |
Selbstermächtigungen zwar mit feiner Ironie, aber ohne ästhetische Häme | |
aus. Die Wertschätzung der beiden Fotografen gilt gerade diesem besonderen | |
Charme, der mehr erzählt über die Menschen, als ein Porträtfoto von ihnen | |
je zu sagen vermöchte. Ein Essay des [7][Architekturtheoretikers Jan | |
Engelke] – er forscht in München zum Eigenheim in Zeiten des | |
Wirtschaftswunders – liefert dem Buch die geschichtliche Einordnung. Und | |
ein fiktives Diskussionsformat zur Zukunft des Behelfsheims stellt den | |
Bezug zu den Begehrlichkeiten derzeitigen Stadtplanungsgeschehens her. | |
Zu beziehen ist „Behelfsheim“ für die Dauer der Ausstellung in der | |
Hamburger Frelens-Gamier oder über die Homepage der beiden Fotografen. | |
22 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sueddeutsche.de/panorama/schrebergarten-kolonien-laube-liebe-wa… | |
[2] https://www.klgv-142.de/ | |
[3] https://gartenkolonie-billerhude.de/ | |
[4] http://klimagerechtesbauen.blogspot.com/2013/12/licht-luft-und-sonne-das-wa… | |
[5] https://www.enverhirsch.com/ | |
[6] https://philippmeuser.de/ | |
[7] https://www.identitaet-und-erbe.org/jan-engelke/ | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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