# taz.de -- Konflikt im Südkaukasus: Der eingefrorene Krieg | |
> Mit der vereinbarten Waffenruhe in Bergkarabach muss Armenien wichtige | |
> Territorien räumen. Aserbaidschan feiert sich als Gewinner. | |
Bild: Der Krieg in Bergkarabach forderte zuletzt zahlreiche Opfer, darunter Sol… | |
Aserbaidschan jubelt. Tausende Menschen tanzen auf den Straßen und Plätzen | |
in Baku, Ganja und anderen Städten. Freunde und Fremde, alle Hand in Hand. | |
Hupend fahren Menschen in größeren Autokorsos durch die Städte und rufen: | |
„Karabach ist Aserbaidschan.“ Sie feiern ihren Sieg in Bergkarabach. | |
In Armenien hingegen macht sich in der Nacht zu Dienstag Zorn und | |
Enttäuschung breit. In der Hauptstadt Jerewan stürmen Tausende | |
Demonstranten das Regierungsgebäude und das Parlament. Sie durchsuchen | |
Büros, schlagen Fenster ein. Parlamentssprecher Ararat Mirzojan wird bei | |
einem Angriff fast zu Tode geprügelt. Er liegt jetzt im Krankenhaus. | |
„Wo ist der Verräter?“, schreien Tausende wütende Demonstranten in Jerewa… | |
Sie sind auf der Suche nach Premierminister Nikol Paschinjan. Der hatte | |
wenige Stunden zuvor verkündet, er habe mit Aserbaidschan und Russland eine | |
Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet, um die Kämpfe um Bergkarabach | |
zu beenden. | |
Laut der [1][Vereinbarung, deren Umsetzung russische Friedenstruppen | |
absichern sollen], verliert Armenien die Kontrolle über alle sieben | |
Regionen, die Bergkarabach umgeben. Davon ausgenommen ist der | |
„Laschinkorridor“ auf einer Breite von fünf Kilometern, der Armenien mit | |
Bergkarabach verbindet. Auch die Stadt Schuschi (aserbaidschanisch: | |
Schuscha) ist nicht von dieser Regelung tangiert, was den Schluss zulässt, | |
dass ein Teil von Bergkarabach künftig von Aserbaidschan kontrolliert wird. | |
Über den Status von Bergkarabach schweigt sich die Vereinbarung aus. Zudem | |
muss Armenien eine Verbindung zwischen den westlichen Regionen | |
Aserbaidschans und der aserbaidschanisch besiedelten autonomen Region | |
Nachitschewan sicherstellen, die auch an die Türkei grenzt und zu der | |
Aserbaidschan bisher keinen direkten Zugang hat. | |
## Der Territorialkonflikt schwelt seit über 30 Jahren | |
Seit dem 27. September toben heftige Kämpfe um die Region Bergkarabach | |
zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nach Angaben aus Bergkarabach wurden | |
auf armenischer Seite seither 1.297 Soldaten getötet. Aserbaidschan nennt | |
dazu bislang keine Zahlen. | |
Der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte Gebiet, | |
das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik Aserbaidschan zugeordnet worden war, | |
schwelt seit über 30 Jahren. Ein Krieg Anfang der 1990er Jahre, in dem | |
unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 25.000 und 50.000 Menschen | |
getötet und über 1,1 Millionen vertrieben wurden, mündete 1994 in einen | |
brüchigen Waffenstillstand. Seitdem bemüht sich die Minskgruppe der OSZE, | |
der neben Russland auch die USA und Frankreich angehören, darum eine | |
Friedenslösung auszuhandeln. | |
Im Zuge des jüngsten Krieges gewannen aserbaidschanische Truppen, die von | |
der Türkei unterstützt werden, zusehends die Oberhand. Sie nahmen immer | |
neue Dörfer und Städte ein. [2][Vor wenigen Tagen fiel die strategisch | |
wichtige Stadt Schuschi im Herzen von Bergkarabach] – für Armenien eine | |
katastrophale Niederlage. Nach derzeitigem Stand hat Aserbaidschan die | |
Mehrheit der um Bergkarabach herumliegenden Regionen erobert und das | |
international nicht anerkannte Gebiet Bergkarabach praktisch halbiert. | |
Armenien steht jetzt nicht nur vor einem politischen Chaos, sondern auch | |
vor einer humanitäre Katastrophe. In Bergkarabach lebten vor dem Ausbruch | |
der jüngsten Kämpfe etwa 150.000 Menschen. Die Mehrheit ist nach Armenien | |
geflohen. Nur die Männer sind noch an der Front. Unterkünfte für | |
Flüchtlinge sind Mangelware und die Menschen komplett auf die Hilfe von | |
Freiwilligen angewiesen. In den Kliniken sind alle Betten mit verletzten | |
Soldaten belegt. | |
## In den sozialen Medien bricht sich der Volkszorn Bahn | |
Ziel von Hass und Verbitterung ist quasi über Nacht Nikol Paschinjan | |
geworden, der 2018 durch die Samtene Revolution an die Macht kam. Obwohl er | |
die absolute Mehrheit im Parlament hat, hat er keine politischen | |
Verbündeten. 17 Oppositionsparteien fordern seinen Rücktritt. Unter den | |
Parteien, die die Erklärung unterzeichneten, sind Gruppen wie „Blühendes | |
Armenien“, die Republikanische Partei des ehemaligen Präsidenten Sersch | |
Sargsjan sowie die Armenian Revolutionary Federation Daschnaktsutjun, die | |
bis zum Machtwechsel 2018 an der Regierung beteiligt waren. | |
In einer ersten Stellungnahme machte Paschinjan auch Korruption und | |
Vetternwirtschaft in den Vorgängerregierungen für die Niederlage in | |
Bergkarabach verantwortlich. „Wir müssen bereit sein, Rache zu üben. Wir | |
haben uns nicht richtig mit den korrupten, oligarchischen Schurken befasst, | |
mit denen, die dieses Land ausgeraubt, das Essen und die Waffen der | |
Soldaten gestohlen haben“, sagte Paschinjan. | |
Der Präsident der Region Bergkarabach, Arayik Harutjunjan, erklärte, er | |
habe seine Zustimmung zur Beendigung des Krieges gegeben, um weitere Opfer | |
und den vollständigen Verlust von Bergkarabach zu vermeiden. | |
Auch in den sozialen Medien bricht sich der Volkszorn Bahn. „Die Russen | |
haben uns wieder an die Türken verkauft“, lautet der Tenor vieler Einträge | |
– ein Hinweis auf die aserbaidschanische Autonome Republik Nachitschewan. | |
Dahinter sehen viele Armenier das Gespenst des türkischen Panturkismus: Die | |
Türkei werde jetzt einen direkten Zugang zu seinem Verbündeten | |
Aserbaidschan bekommen. Das aber bedeute, dass auch die Souveränität | |
Armeniens bedroht sei. | |
10 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
Barbara Oertel | |
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