# taz.de -- Nachwehen des Krieges in Armenien: Die Kirche ist plötzlich Opposi… | |
> In Armenien waren die Popen stets aufseiten der Regierung – Korruption | |
> inklusive. Nach dem verlorenen Krieg fordern sie den Rücktritt des | |
> Premiers. | |
Bild: Demonstration der Opposition in Jerewan am 22. Dezember | |
JEREWAN taz | „Ein Armenien ohne Nikol“, rufen Tausende | |
Demonstrant*innen auch an diesem Donnerstag auf dem zentralen | |
Republikplatz in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Sie meinen damit | |
Premierminister Nikol Paschinjan, den sie als „Verräter“, „westlichen | |
Agenten“ und „Schurken“ beschimpfen. | |
Vor dem Gebäude der armenischen Regierung schreien sich die | |
Oppositionsführer die Kehle aus dem Leib. Sie wollen Paschinjans Rücktritt | |
erzwingen, weil „er das Land Stück für Stück weiter an Türken und | |
Aserbaidschaner verkauft“. Eine ältere Frau hat einen bessern Vorschlag, | |
falls er nicht freiwillig abtreten will: „Er sollte Selbstmord begehen. | |
Dann haben wir alle unsere Ruhe.“ | |
Zigtausende Armenier*innen, die Paschinjan noch vor zwei Jahren während der | |
„Samtenen Revolution“ vergöttert hatten, [1][hassen ihn jetzt abgrundtief]. | |
Sein Besuch der südlichen Region Sjunik Anfang der Woche scheitert, da | |
Demonstrant*innen den Weg versperren. Es bleibt ihm nur in einer nahe | |
gelegenen Kirche zu beten und eine Kerze zur Errettung seiner Seele | |
anzuzünden. | |
Doch auch dort Fehlanzeige. In der St. Grigor-Kirche in Sisian, weigert | |
sich der Priester demonstrativ, Paschinjan die Hand zu schütteln und weist | |
ihm den Weg zum Ausgang. Paschinyan verlässt das Gotteshaus mit gesenktem | |
Haupt. Journalist*innen gegenüber erzählt der Pope später, er habe | |
Paschinjan geraten, auf das „Jüngste Gericht“ zu warten. | |
## Taufen im Akkord | |
Gott hat in Armenien leider wenig zu tun, die Priester dagegen umso mehr. | |
Die Menschen sind nicht religiös, obwohl über 92 Prozent offiziell der | |
[2][Armenisch Apostolischen Kirche] angehören. An den Wochenenden wird in | |
den Kirchen im Akkord getauft. Und das Weihwasser ist teuer. | |
Das Christentum ist aber ein wesentlicher Teil der armenischen Identität. | |
Die Armenier*innen sind stolz, dass ihr Land bereits im Jahr 301 und | |
damit als erstes auf der Welt das Christentum als Staatsreligion eingeführt | |
hat. | |
Die Armenische Kirche, die zu Sowjetzeiten ein verstecktes Dasein führte, | |
versucht seit der Unabhängigkeit 1991 sich ihre alte führende Position in | |
der Politik und im sozialen Leben zurückzuholen. Deshalb hat sie mit der | |
ehemaligen Regierungskoalition, die sich heute als Opposition an Paschinjan | |
rächen will, immer kooperiert – von Geldwäsche über Korruption bis zu | |
Kriminalität. | |
Oligarchen bauten Kirchen sicher nicht deswegen, weil sie große Sünden auf | |
sich geladen hatten. Der Primas der Diözese in der Hauptstadt fuhr einen | |
Bentley, sein Name tauchte in Offshore-Dokumenten auf. | |
## Getrennt, aber nicht immer | |
Heute wendet sich die Kirche zum ersten Mal offen gegen die Regierung. | |
Priester gehen zu Demonstrationen. Der Katholikos Karekin II., Oberhaupt | |
der Armenischen Apostolischen Kirche, fordert Paschinjan zum Rücktritt auf, | |
um „weitere Zusammenstöße und tragische Konsequenzen zu verhindern“. | |
Die Paschinjan-Unterstützer hingegen beschimpfen die „kirchlichen Mafiosi“ | |
und fordern, dass die Popen besser ruhig bleiben und sich nicht in die | |
Politik einmischen sollten. Aber warum eigentlich nicht, fragt man sich in | |
Jerewan. | |
Die Kirche und der Staat sind getrennt, doch bei einigen Fragen gilt das | |
offensichtlich nicht. Als Paschinjan Männer und Frauen für einen Einsatz in | |
der Armee während des 44-tägigen Krieges um Bergkarbach mobilisierte, war | |
auch die ganze Kirche in dieser Mission unterwegs. Vielleicht sollte sie | |
jetzt auch eine Mitverantwortung für die Ergebnisse des Krieges übernehmen. | |
24 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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