# taz.de -- Konflikt um Bergkarabach: Fladenbrot gegen die Verzweiflung | |
> In Armeniens Hauptstadt Jerewan fordern Demonstranten den Rücktritt des | |
> Premiers. Derweil backen Flüchtlinge aus Bergkarabach Brot. | |
Bild: Mit dem Verkauf der Fladenbrote werden auch Familien von Soldaten unterst… | |
JEREWAN taz | „Nikol, du Verräter, hau ab“, brüllen Hunderte | |
Demonstrant*innen am Donnerstag vor dem Gebäude der armenischen Regierung | |
in der Hauptstadt Jerewan. Die Polizei nimmt 42 Aktivist*innen fest. | |
Seit Wochen gehen immer wieder Menschen auf die Straße und fordern den | |
Rücktritt von [1][Premierminister Nikol Paschinjan]. Die Opposition will | |
eine Übergangsregierung bilden, die das Land auf vorgezogene Wahlen | |
innerhalb eines Jahres vorbereiten soll. | |
Nicht weit von der Protestaktion auf dem Republikplatz stehen vier Frauen | |
aus [2][Bergkarabach] in einem Zelt. Sie protestieren nicht, sie backen – | |
täglich von 10 bis 22 Uhr. Menschen stehen Schlange für die mit frischen | |
Kräutern gefüllten Fladenbrote. Viele lassen doppelt so viel Geld an der | |
Kasse. Das sichert nicht nur den Frauen ihren Lohn. Auch viele Familien von | |
Soldaten können so unterstützt werden. Lesmonia Ohandchanjan rollt den Teig | |
aus. Die 65-Jährige sympathisiert mit den Demonstrant*innen. „Paschinjan | |
hat unser Land verkauft, er ist ein Verräter“, sagt sie. | |
Am kommenden Sonntag geht Lemonia nach Stepanakert, in die Hauptstadt von | |
Bergkarabach zurück. Ihre ganze Familie ist schon dort. Ihre Schwester | |
Lilia bleibt vorerst in Jerewan. Sie ist mit ihrem Mann, Sohn und Tochter, | |
Schwiegersohn und Schwiegertochter sowie ihren Enkeln in Jerewan in einer | |
Gemeinschaftswohnung untergebracht. Sie alle haben ihre Häuser in der | |
Region Hadrut zurückgelassen, die die aserbaidschanische Armee bereits im | |
Krieg erobert hat. | |
## Radio am Baum | |
Etwa 15 Minuten Fußweg von dem Backstand entfernt verkauft eine Frau Blumen | |
in einer Fußgängerzone. Schuschan Mghdesjan (64) ist warm angezogen. Sie | |
sitzt auf einem Stuhl, an einem Wasserkocher wärmt sie ihre Hände. | |
Sie hat ein Radio an einen Baum gehängt. Der Ton ist so laut, dass die | |
Passant*innen alles mithören. Gerade läuft ein Beitrag über [3][die | |
Siegesparade in Baku]. „Woher kommt der Hass bei Erdoğan und Alijev“, fragt | |
sie. „Sie lassen unsere Söhne in aserbaidschanischer Gefangenschaft | |
foltern. Despoten.“ | |
Und wer kauft dieser Tage Blumen in Armenien? „Die Menschen haben | |
tatsächlich etwas zu feiern“, sagt sie. Es scheint, dass die Frage sie | |
etwas beruhigt. Gerade noch hat sie geweint, doch jetzt lächelt sie. | |
„Unsere Soldaten kehren nach Hause zurück.“ Die jungen Männer kauften | |
riesige Rosensträuße für ihre Mütter und Frauen, wenn sie überraschend nach | |
Hause kämen. „Paschinjan hat den Krieg gestoppt. Mit einem schmerzhaften | |
Abkommen, aber immerhin sterben keine Soldaten mehr.“ | |
Mghdesjan hält zu Paschinjan. Die Alternative seien nur die alten | |
kriminellen Oligarchen, die „uns jahrelang ausgeraubt haben. Wie kann es | |
sein, dass in einem so armen Land wie Armenien Beamte so viele Luxusvillen | |
gebaut haben?“, fragt sie und sagt: „All diese korrupten Politiker will ich | |
nicht mehr zurückhaben.“ | |
11 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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