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# taz.de -- Krieg von Armenien mit Aserbaidschan: Kognak im Bunker
> Drei Brüder und ihr Vater verbringen ihre Zeit in einem Keller, wenn sie
> nicht draußen kämpfen. Der Konflikt um Bergkarabach zwingt sie zur
> Flucht.
Bild: Der Strom ist ausgefallen. Vater Camo mit einem Bekannten im Bunker
Vier Männer sitzen in einem Keller und trinken Kognak. Es sind die Brüder
Tigran, Armen und Gevorg sowie ihr Vater Camo. Seit dem 27. September
hocken sie in diesem Keller in der Stadt Schuschi in Bergkarabach. Die
Soldaten der aserbaidschanischen Armee stehen unten im Tal. Nachts
probieren sie des Öfteren, den steilen Berg bis zum Gipfelstädtchen zu
erklimmen. Dann sind die vier Armenier meist zur Unterstützung der Armee
dort und schießen mit ihren Kalaschnikows den Hang hinunter, bis die
Stimmen der Aserbaidschaner wieder verstummt sind.
Tagsüber unternehmen die vier Männer den oft vergeblichen Versuch, sich ein
wenig auszuruhen. In dem Schutzbunker ihres Wohnblocks aus sowjetischen
Zeiten in [1][Schuschi] ist es stickig und feucht. Eine aufgerissene
Sardinendose fungiert als Aschenbecher. Der Kognak wird bei Kerzenlicht
ausgeschenkt – es gibt keinen Strom mehr und kaum noch Hoffnung.
Vater Camo ist ausgebildeter Soldat, aber bereits 60 Jahre alt. Sein
ältester Sohn, der 36-jährige Tigran, ist extrem kurzsichtig, minus 11
Dioptrien, und sieht „ohne Brille so viel wie ein gesunder Mensch unter
Wasser“, wie er sagt. Die beiden jüngeren, Armen und Gevorg, haben vor
Kriegsausbruch als Schauspieler gearbeitet. Ihre Gesichter sind warm und
freundlich; die umgelegte Maschinenpistole wirkt bei ihnen eher wie eine
Bühnenrequisite als eine tödliche Waffe.
Es ist offensichtlich: Gegen die Drohnen, die Artillerie und die viel
besser ausgerüstete und durch die Türkei unterstützte aserbaidschanische
Armee haben diese vier Männer keine Chance.
## Zweifelhafte Witze zwischen den Einschlägen
Während im Zehnminutentakt das Geräusch einschlagender Artilleriegeschosse
durch die angelehnte Stahltür dringt, versucht es Camo mit Humor. Die
Knarre zwischen den Beinen, den Kognak in der einen Hand und eine Zigarette
in der anderen, will er seinen Söhnen Mut machen. Deshalb erzählt er Witze
wie diesen hier: „Ein Armenier wird von einem Kannibalenstamm im tiefsten
Afrika gefangen genommen. Während sie das Feuer anheizen, um ihn zu
grillen, taucht vor ihm der Häuptling des Stammes auf. Er ist von oben bis
unten mit sowjetischen Knasttätowierungen vollgehackt und begrüßt ihn in
akzentfreiem Armenisch. ‚Du bist doch wie ich‘, ruft der Gefangene
erleichtert. ‚Ja‘, sagt der Häuptling, ‚aber ich bin auch ziemlich
hungrig.‘ “
Camos Sprösslinge schmunzeln, aber sie lachen nicht. Zu stark sitzen ihnen
die vergangenen Wochen in den Knochen. Noch Mitte September schien alles in
Ordnung: Gevorg und Armen arbeiteten im städtischen Theater, Tigran war
Gärtner in der Kirche. Alle drei erinnern sich genau an den Moment am
Morgen des 27. September, an dem ihre Welt auseinanderzubrechen begann.
Der Jüngste, der 25-jährige Gevorg, war gerade dabei, seine zweijährige
Tochter zu waschen. Auf einmal donnerte es am Horizont. „Und als das
Donnern bereits fünf Minuten lang pausenlos anhielt, wusste ich: Es ist
wieder Krieg um Karabach.“ Der idyllisch gelegene Gipfelort in den grünen
Bergen hat sich in eine Kampfzone verwandelt. Am 8. Oktober wird die Kirche
in Schuschi von einer Rakete getroffen; das Theater folgt nur wenige Tage
später. Ihre Frauen und Kinder waren da bereits geflohen. Doch die vier
wollen bleiben, denn der Krieg um Schuschi gilt ihnen mehr als nur ein
Kampf um die Heimat ihrer Familie. Denn wer Schuschi gewinnt, gewinnt den
Krieg.
In Blickweite und kaum 15 Minuten Autofahrt von Schuschi entfernt, im
südlichen Tal, liegt Stepanakert, die Hauptstadt der Region. Dort steht
neben dem zentralen Kreisverkehr auf einem überdimensionalen Schild
geschrieben: „9. Mai 1992, der Tag des Sieges“. An diesem Tag wurde der
Gipfelort, den die Aserbaidschaner Schuscha und die Armenier Schuschi
nennen, von proarmenischen Kämpfern erobert. Die Kleinstadt ist für beide
Seiten nicht nur von historischer Bedeutung, sondern spielt auch in der
Kriegsstrategie eine zentrale Rolle.
Vor Ausbruch des Krieges im Jahr 1988 waren circa zwei Drittel der
Einwohner Schuschis aserbaidschanisch. Entsprechend stark ist jetzt die
Motivation Aserbaidschans, den Ort wieder einzunehmen, und entsprechend
brutal sind die Kämpfe. Von Schuschi aus kann man direkt auf Stepanakert
blicken, aber auch auf die wichtigste Versorgungsroute nach Armenien, den
Lachin-Korridor, und ihn gegebenenfalls unter direkten Artilleriebeschuss
nehmen.
## Wer Schuschi gewinnt, gewinnt den Krieg
Wie im ersten Krieg um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan von
1988 bis 1994 gilt auch dieses Mal: Wer die Kleinstadt Schuschi gewinnt,
gewinnt den Krieg und damit das, was aus armenischer Sicht die Republik
Arzach ist.
Der Konflikt wird mit äußerster Brutalität ausgefochten. Während auf
proarmenischen Telegram-Kanälen Videos kursieren, die zeigen, wie die
Leichen von Aserbaidschanern von Schweinen gefressen werden, häufen sich
umgekehrt Berichte von Exekutionen von Armeniern durch aserbaidschanische
Soldaten und syrische Söldner, die über die Türkei zur Unterstützung in das
Land gebracht werden.
Auch auf internationaler Ebene läuft eine [2][Propagandaschlacht]. Auf
beiden Seiten werben Prominente mit martialischen Musikvideos für den
Krieg, darunter die bekannte armenische Metalband System of a Down, und
auch die US-amerikanische Fernseh-Berühmtheit Kim Kardashian.
Camo, der Vater der in einem Keller der Kleinstadt Schuschi ausharrenden
Familie, wurde 1960 in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans geboren und
wuchs dort auch auf. Trotz seiner vielen Falten im Gesicht sei er ein Jäger
geblieben, erzählen seine Söhne. Viele Jahre seines Lebens hat er mit Krieg
und Kämpfen verbracht. Seine Militärkarriere begann noch bei der Roten
Armee. 1988 dann seien er und seine Frau aus Baku vertrieben worden,
berichtet er. Der Sohn Tigran war damals gerade mal vier Jahre alt, Armen
kaum ein Jahr auf der Welt. Während sich Camos Frau auf dem Weg nach
Karabach bei Freunden versteckt hielt, schloss er sich einer Gruppe
proarmenischer Kämpfer an und war schließlich an der Eroberung Schuschis
vor 28 Jahren beteiligt. Der gelernte Schreiner entschied sich dafür, hier
das neue Leben der Familie zu beginnen.
Dass seine Söhne keine ausgebildeten Soldaten sind und trotzdem bei ihm im
stickigen Keller bleiben wollen, rechnet er ihnen hoch an. Zur Ermutigung
hat er seinem Sohn Armen eine ganz besondere Armbanduhr geschenkt. Die hat
Camo in den ersten Tagen des jetzt wieder aufgeflammten Konflikts einem
Toten abgenommen. Seine Einheit hatte bei einem Feuergefecht mehrere
Soldaten getötet, berichtet er. Camo durchsuchte die Leichen und glaubte,
bei einem der Toten einen [3][syrischen Söldner] vor sich zu haben. Es sei
kein Abzeichen auf der Uniform gewesen. Auch die Uhr habe er nicht am
Handgelenk, sondern in einer kleinen Schatulle in seiner Jacke getragen.
„Ich wette, sie haben ihn damit bezahlt, als er nach Arzach geschickt
wurde, um uns umzubringen“, sagt Camo. Konkrete Beweise hat er nicht.
Der 32-jährige Armen wirkt bei diesen Erzählungen mächtig stolz auf seinen
Vater. Ohne ihn wäre er wohl nicht hier, sondern bei seiner Familie in der
armenischen Hauptstadt Jerewan, sagt der Schauspieler, der mit seinen grau
melierten Haaren und den Goldzähnen wie eine George-Clooney-Version aus dem
postsowjetischen Hinterland anmutet.
Den Krieg verstehe er auf einer politischen Ebene, doch persönlich hege er
keinen Hass, sagt Armen. „Ich habe in meinem Leben noch nie wirklich mit
einem Aserbaidschaner zu tun gehabt, aber mit unserer Theatergruppe waren
wir mal in Beirut, Libanon. Das sind auch Muslime“, erinnert er sich. „Ich
hatte einen Anzug an, den ich eigentlich für meine Rolle bekommen hatte.
Damit bin ich dann herumgelaufen, und alle waren extrem nett zu mir.“
Armen wird auf einmal ganz still und schaut ins Leere. Doch sein Ausflug in
die Vergangenheit dauert nur ein paar Sekunden – schon donnert es wieder
durch die Tür, und selbst der kriegserprobte Vater schreckt kurz auf.
Am Mittwoch letzter Woche kommt in Schuschi und Umgebung dichter Nebel auf.
Die aserbaidschanische Armee nutzt die Gelegenheit und startet eine
Großoffensive. Was vorher bereits schlimm war, wird für die Brüder nun
unerträglich. „Das ganze Haus wackelt“, erzählt Armen am Telefon, als sie
sich entscheiden, die einzige Option zu ziehen die ihnen noch bleibt. Sie
rufen die Journalisten und ihren Fahrer an, die sie einige Tage in ihrem
Alltag begleitet haben. „Die Aserbaidschaner sind auf dem Weg, wir haben
sie gestern belauscht. Heute oder morgen wollen sie in der Stadt sein. Sie
wollen durch den Nebel brechen, das werden sie vielleicht schaffen“,
prophezeit Camo.
Als der weiße Kia mit dem armenischen Fahrer und den Journalisten
auftaucht, stellt sich heraus, dass sich zwei weitere Freunde der Familie
evakuieren lassen wollen. Das bedeutet, dass man zwei Fahrten brauchen
wird, um alle ins Tal nach Stepanakert zu bringen. Der Nebel ist so dicht,
dass man keine fünf Meter weit sehen kann. Die Artillerie ist pausenlos zu
hören. Allerdings ist es schwer, abzuschätzen, wie weit die Einschläge
entfernt sind.
Wer bleibt und wer geht, muss schnell entschieden werden. Also: Die
Journalisten bleiben mit dem Freund und dem Vater zunächst im Bunker. Die
anderen sollen so schnell wie möglich weg. Hastig werfen die Brüder ihr Hab
und Gut ins Auto: ein paar Taschen mit Klamotten, eine Kiste Zwiebeln, eine
Kiste Kartoffeln. „Sie können jede Sekunde da sein, jede Sekunde“, flüste…
Armen wiederholt vor sich hin. Dann ist es so weit, und das Auto
verschwindet im Nebeldickicht.
## Warten auf die Evakuierung
Vater Camo führt den Weg entlang zurück in den Bunker. Der Mobilfunkempfang
ist mittlerweile abgebrochen. Also wird die Uhr gestellt. „20 Minuten
braucht er durch den Nebel runter“, sagt Camo, „5 Minuten im Ort und 20
wieder hoch.“ Er legt das Handy auf den Tisch. „45 Minuten müssen wir uns
also gedulden, ansonsten brauchen wir einen Plan B. Wer will einen Tee, und
wer einen Kognak?“ Mit einer plötzlichen Gemütlichkeit beugt er sich über
den Wasserkocher. „Die Aserbaidschaner wollen hier auch einen Tee trinken,
aber es wird ihr eigenes Blut sein.“
Als das Wasser gekocht ist und die Getränke eingeschenkt sind, bleiben 39
Minuten auf der Uhr. Camos Freund kann seine Gelassenheit nicht teilen. Ihm
läuft der Schweiß in Strömen herunter. Jedes Mal, wenn er etwas zu hören
glaubt, steht er auf und schaut vorsichtig die Treppe hoch. Noch 30
Minuten. Camo hält einen langen Vortrag über den armenischen Willen, den
armenischen Patriotismus und darüber, wie wenig Gnade die
Aserbaidschaner haben werden, sollten sie die Versammlung in dem stickigen
Keller in die Finger kriegen.
15 Minuten. Es knallt gewaltig. Langsam schwindet auch das Tageslicht. Noch
5 Minuten. Auf einmal ein Schatten. Der verschwitze Freund der Familie hält
sein Gewehr, so fest er nur kann. „Ich bin’s nur“, ruft der Fahrer von
oben. Alle springen auf, die letzten Kleinigkeiten werden ins Auto geladen.
Doch Camo fehlt.
Als habe er ein langes, glückliches Leben vor sich, schließt er langsam die
Tür zu dem bombensicheren Keller zu, während alle schon auf ihren Plätzen
sind. Camo hat sein Gewehr in der linken Hand und seine Magazine um die
Brust geschnallt. „Steig endlich ein!“, brüllen der Fahrer und der Freund
des Vaters ihn abwechselnd an. Doch er stellt sich vor das Auto.
Entschlossen, aber leise sagt er auf Russisch: „Ja nje praschajus“ – „D…
hier ist nicht der Abschied.“ Dazu hebt er die rechte Hand und segnet mit
einer Kreuzgeste den weißen Kia mit den drei Journalisten, ihrem Fahrer und
dem Freund mit der Kalaschnikow und der Kiste Kartoffeln im Kofferraum.
Camo bleibt.
„Wir können ja schon mal entscheiden, wer den Brüdern sagen muss, dass ihr
Vater geblieben ist“, sagt der Freund, während der weiße Kia auf der
zerbombten Straße beschleunigt und der Zurückgebliebene im Nebel
verschwindet.
Nachtrag: Am Montagmorgen hat uns eine Nachricht der Brüder erreicht. Sie
berichten, dass entgegen der Stellungnahme ihrer Regierung ihr Heimatort
Schuschi tatsächlich gefallen sei. Die Großoffensive der Aserbaidschaner
gehe weiter. Bereits seit Samstagabend soll es heftige Straßenkämpfe
zwischen armenischen und aserbaidschanischen Kräften auch in der Hauptstadt
Stepanakert geben. Die Brüder sind dabei.
9 Nov 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Philip Malzahn
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