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# taz.de -- Geflüchtete in Armenien: Unterschlupf im Luxushotel
> Der Krieg um Bergkarabach treibt immer mehr Menschen nach Armenien. Die
> Hauptstadt Jerewan platzt aus allen Nähten. Unterkünfte sind Mangelware.
Bild: Diese Granate schlug am 14. Oktober bei der Ortschaft Martuni in Bergkara…
Berlin taz | Das Nova Hotel Yerevan ist seit mehr als zwei Wochen
überbucht. Doch das Viersternehaus direkt im Stadtzentrum der armenischen
Hauptstadt macht keinen Gewinn – im Gegenteil. Die Hotelverwaltung hat
zusätzliche Betten, Sofas und Matratzen in die Zimmer hineingequetscht,
damit sie dreimal mehr Gäste unterbringen kann als normalerweise. Etwa 100
Menschen leben derzeit in dem Boutique-Hotel. Alle sind vor dem [1][Krieg
um Bergkarabach] geflohen.
Ende September 2020 ist der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien
eskaliert – wieder einmal. Es sind die schwersten Kämpfe seit Jahrzehnten.
Bislang wurden mehr als 604 Soldaten auf armenischer Seite getötet.
Aserbaidschan macht bislang keine Angaben zu den Opfern und hält die Zahl
eigener Verluste unter Verschluss.
Der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte Gebiet
Bergkarabach, das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik Aserbaidschan
zugeschlagen worden war, schwelt seit über 30 Jahren.
In Bergkarabach lebten vor dem Ausbruch der jüngsten Kämpfe etwa 150.000
Menschen. Viele Ortschaften sind mittlerweile jedoch verwaist. Die Männer
sind an der Front. Frauen und Kinder verstecken sich in Bunkern in der
Hauptstadt Stepanakert.
Tausende Einwohner*innen sind nach Armenien geflohen. Dort versuchen viele
Menschen auf eigene Faust, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Sie
mieten Wohnungen oder sind in Ferienhäuser ihrer Verwandten gezogen.
Viele Armenier*innen haben Geflüchtete auch bei sich zu Hause aufgenommen.
Über Facebook melden sich Nutzer*innen, die entweder ein Zimmer brauchen
oder ein Zimmer zur Verfügung stellen wollen. Auch einige Hotels bieten
ihre Zimmer an.
Das Nova Hotel Yerevan meldete sich bereits einen Tag nach dem Beginn der
Gefechte am 27. September und beherbergt seitdem Frauen, Kinder und ältere
Menschen.
„Wir sind überfordert, doch wir tun, was wir können, und das von ganzem
Herzen“, sagt Narine Davtyan. Die 25-Jährige ist Managerin des Hotels, das
einer Familie gehört, die vor zwei Jahren von den USA nach Armenien gezogen
ist. Auch Bürger*innen würden freiwillig helfen, erzählt Davtyan. Sie
sammelten Kleidung und Hygieneartikel für die Hotelbewohner*innen. Einige
Restaurants lieferten unentgeltlich Lunchpakete und andere Lebensmittel.
## Begrenzte Ressourcen
Wie lange kann das so weitergehen? „Unsere Ressourcen sind begrenzt und wir
werden bald Probleme bekommen“, sagt Narine Davtyan. „Wenn die Regierung
keine grundsätzliche Lösung findet, können wir unsere freiwillige Arbeit
irgendwann nicht mehr fortsetzen“, sagt sie. Auch humanitäre Hilfe aus dem
Ausland wäre eine wichtige Unterstützung.
Jerewan ist bereits jetzt komplett überlastet. Es ist unmöglich geworden,
eine Wohnung zu mieten. Damit sich geflüchtete Menschen nicht alle in der
Hauptstadt drängen, versucht das Ministerium für Arbeit und Soziales für
die Neuankömmlinge in den Regionen eine Unterkunft zu finden. Dort gibt es
aber allenfalls in öffentlichen Einrichtungen noch Kapazitäten. Einige
Familien übernachten derzeit in Schulen.
In der Stadt Tscharenzawan, etwa 40 Kilometer von Jerewan entfernt, sind
etwa 400 Familien untergekommen und das dichtgedrängt auf engstem Raum. In
einer Vierzimmerwohnung leben 20 Menschen zusammen.
Auch die 64-jährige Rosa Amirjan wohnt jetzt hier. Ihre Söhne und Enkel
kämpfen an der Front. Ihre Hühner und Kühe hat sie in einem Stall, im
Garten ihres Hauses in Bergkarabach zurückgelassen. „Egal, ob mein Haus dem
Erdboden gleichgemacht wird oder nicht, ich möchte wieder zurück“, sagt
sie. Mehr will sie über den Krieg nicht sagen. „Wir warten“, sagt sie. Auf
Frieden warten in dieser Wohnung alle, eine 22-Jährige mit ihrem Mann,
mehrere Frauen, eine Schwangere und viele Kleinkinder und Babys.
## Keine speziellen Förderprogramme
Noch gibt es keine speziellen Förderprogramme für die geflüchteten Menschen
aus Bergkarabach. Armenien konzentriert seine ganzen Ressourcen auf den
Krieg – Zeit, Personal und Geld. „Mit den realen sozialen Problemen werden
wir uns erst nach einem Friedensschluss systematisch beschäftigen können“,
sagt Sona Martirosyan, Pressesprecherin des Ministeriums für Arbeit und
Soziales gegenüber der taz.
Das hängt nicht nur von der [2][Situation an der Front] ab. Im Fall einer
Niederlage bleiben die Menschen in Armenien. Im Falle eines Sieges können
sie sowieso nicht in ihre Häuser in Bergkarabach zurückkehren, weil fast
alles zerstört ist.
Martirosyan hat bereits 600 freiwillige Arbeitskräfte für
Wiederaufbauarbeiten in Bergkarabach registriert. „Wir müssen alles neu
errichten und das möglichst schnell“, sagt sie. Und wenn Bergkarabach für
die Armenier*innen verlorengeht? Zu diesem Szenario möchte sich Martirosyan
lieber nicht äußern.
Unterdessen begeben sich immer mehr Menschen auf die Flucht. Bereits Anfang
der 1990er Jahre, als der Krieg zum ersten Mal ausgebrochen war, wurden
unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 25.000 und 50.000 Menschen
auf beiden Seiten getötet sowie über 1,1 Millionen aus ihren Heimatorten
vertrieben. Wie viele werden es dieses Mal sein?
16 Oct 2020
## LINKS
[1] /Proteste-in-Baku-nach-Gefechten/!5695123
[2] /Armenien-und-Aserbaidschan/!5719282
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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Schwerpunkt Bergkarabach
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