# taz.de -- Kältehilfe in Pandemiezeiten: Corona lässt frösteln | |
> Die Pandemie erschwert die Bedingungen in der Kältehilfe: Die Zahl der | |
> Schlafplätze ist dabei weniger das Problem als fehlende Angebote | |
> tagsüber. | |
Bild: Diakon Wolfgang Willsch und ein Helfer in der Küche der Gemeinde St.Pius | |
Wenn abends um sieben die Notübernachtung von St. Pius aufmacht, warten | |
schon ein paar Männer mit Mund-Nasen-Schutz im dunklen Hof neben der | |
Friedrichshainer Kirche. Ein Mitarbeiter schließt die Außentoilette des | |
alten Pfarrhauses auf, nacheinander treten die Männer vor zum Händewaschen | |
und kontaktlosen Fiebermessen. Dann steigen sie die steile Treppe in den | |
Keller hinab zu Kaffee und warmem Essen. | |
„Früher haben immer ein paar Gäste beim Kochen geholfen“, erzählt Diakon | |
Wolfgang Willsch. Man habe in der Küche gesessen, geredet, gelacht. „Jetzt | |
muss alles strikt getrennt sein.“ In die Küche dürfen nur der Koch und eine | |
Kollegin, die das Essen durch eine mit Plexiglas verhangene Luke ausgibt. | |
Die Gäste im Esszimmer sitzen jeder für sich an einem Tisch, maximal zehn | |
auf einmal, nach einer halben Stunde wird gelüftet für die nächsten – | |
Kältehilfe unter Coronabedingungen. „Alles ist viel kälter, viel | |
distanzierter“, bedauert Willsch. | |
Am 1. November hat die offizielle Kältehilfesaison begonnen. Ein paar | |
hundert Notübernachtungsplätze gab es schon im Oktober, aber seit zehn | |
Tagen ist die von Wohlfahrtsverbänden und Kirchengemeinden getragene | |
Winterhilfe voll angelaufen, 1.000 Plätze stehen stadtweit bereit. Wegen | |
der Pandemie mussten alle Einrichtungen Hygienekonzepte vorlegen und Plätze | |
reduzieren, um Abstände wahren zu können. Die dadurch gestiegenen Kosten – | |
der Personalaufwand bleibt ja gleich – übernimmt die Finanzverwaltung. | |
Um trotzdem auf die Zielzahl von 1.000 Betten zu kommen, hat die | |
Senatsverwaltung für Soziales Verträge mit drei Hotels abgeschlossen: dem | |
Sezer Hotel in Schöneweide (70 Plätze), dem Pfefferbett-Hostel in | |
Prenzlauer Berg (90 Plätze) und einer kleinen Pension in Friedrichshain mit | |
25 Plätzen, fußläufig von St. Pius. „Der Besitzer möchte nicht, dass der | |
Name in der Zeitung steht“, sagt Willsch. Er habe Angst vor Imageverlust | |
bei der „normalen“ Kundschaft – die es in diesem Winter erst mal nicht | |
geben wird. | |
Die Pension wird von den Helfern von St. Pius mitbetreut. Sie wirkt sauber, | |
ist modern eingerichtet: 3-Sterne-Allerweltsstandard. „Viele unserer Gäste | |
sind positiv überrascht, dass sie so gut untergebracht werden“, sagt | |
Schwester Martha, eine 45-jährige Nonne. Christian Becker, einer der | |
ehrenamtlichen Helfer, hat anderes mitbekommen: „Die Leute haben eine | |
gewisse Hemmschwelle im Hotel, weil es eher chic ist.“ Und nicht so | |
„gemeinschaftlich“ wie sonst in Notunterkünften. Voll ist die Pension noch | |
nicht, elf Gäste sind am Montagabend gekommen. Das entspricht in etwa den | |
rund 65 Prozent Auslastung, die die Koordinierungsstelle der Kältehilfe | |
bislang insgesamt registriert. Was sich bei anhaltend kaltem Wetter schnell | |
ändern kann. | |
Die wenigen Betten in St. Pius sind dagegen schon belegt, „wir sind voll“, | |
sagt der Diakon. In der „Szene“ sei die Notübernachtung, die wie viele nur | |
Männer aufnimmt, bekannt: Es gebe Stammkunden über Jahre, und viele kämen | |
seit Anfang Oktober jeden Abend. „Es ist ja das Ziel der Kältehilfe, die | |
Gäste möglichst fest an einen Ort zu binden“ – gerade jetzt in der | |
Coronazeit. Normalerweise stehen im ersten Stock des Gemeindehauses 11 | |
Betten in 3 Zimmern, jetzt können dort nur fünf Männer schlafen. Dazu | |
kommen drei Betten (sonst zehn) in der Nachbargemeinde St. Nikolaus. Plus | |
acht kleine Wohncontainer der Marke „My Molo“, bekannt als Hipster-Lodges | |
auf Festivals, die im Hof neben dem Pfarrhaus stehen. Die | |
1-Personen-Wohncontainer bekommt die Gemeinde seit Jahren für die | |
Kältehilfe zur Verfügung gestellt. „In der Pandemie sind sie Gold wert“, | |
freut sich Willsch. „Und die Gäste schlafen darin lieber als im Haus.“ Zwei | |
Container hält Willsch derzeit immer frei – falls ein Gast Fieber oder | |
andere Coronasymptome hat. | |
Das Hygiene-Prozedere wird Willsch bald noch mal anpassen müssen. Vorigen | |
Freitag wurden die ersten 5.000 PoC-Antigen-Tests an | |
Kältehilfeeinrichtungen ausgeliefert, die medizinisches Personal vor Ort | |
haben. Das sei etwa die Hälfe aller Einrichtungen, so ein Sprecher von | |
Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) auf taz-Anfrage. Diese könnten | |
damit ab sofort täglich ihre Gäste und wöchentlich ihr Personal testen. | |
Binnen 15 Minuten soll der Test ein Ergebnis zeigen. Ist jemand positiv, | |
muss dem zuständigen Gesundheitsamt Meldung gemacht werden – gegebenenfalls | |
kommt der kranke Gast dann in die Quarantäne-Einrichtung in der Lehrter | |
Straße. | |
Wie das genau gehen soll, etwa mit dem Krankentransport, kann sich Willsch | |
noch nicht vorstellen. Ohnehin muss er noch Ehrenamtliche schulen lassen in | |
der Handhabung der Tests. Den Gästen damit täglich zu kommen, scheint ihm – | |
bei Stammkunden – allerdings etwas viel. „Es ist wichtig, die Balance zu | |
halten“, findet er. Natürlich müssten sich alle an Hygiene- und | |
Sicherheitsregeln halten, „aber wir wollen die Leute ja auch nicht | |
verschrecken.“ | |
Insgesamt, sagt Willsch, hätten sich die Notübernachtungen inzwischen ganz | |
gut auf Corona eingestellt. Die Kältehilfe habe durch die Pandemie zwar | |
einen „Schlag abbekommen“, sei aber nicht zusammengebrochen: „Vor allem | |
wegen der Mitarbeiter, die einfach immer weitergemacht haben.“ Sorge | |
bereitet ihm vor allem, das es im Moment viel weniger Tagesangebote für | |
Obdachlose gibt als sonst. Auch für Jens Aldag von der Koordinierungsstelle | |
Kältehilfe sind die fehlenden „Indoor-Plätze zum Aufhalten und Aufwärmen“ | |
derzeit das größte Problem. Er schätzt, dass das Angebot im Moment 50 bis | |
75 Prozent geringer ist als sonst. | |
Normalerweise gibt es tagsüber diverse Obdachlosencafés, Treffpunkte, | |
Suppenküchen, Kleiderkammern – oft mit niedrigschwelliger Beratung | |
inklusive. Doch viele Angebote konnten, etwa aus baulichen Gründen nicht | |
hygienekonform aufrechterhalten werden, andere wurden im Sommer nach | |
draußen verlegt, etwa Essensausgaben, was nun wetterbedingt nicht mehr | |
geht. Das Problem sei absehbar gewesen, sagt Willsch. „Aber die Politik hat | |
das seit dem Sommer verschlafen.“ | |
11 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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