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# taz.de -- Forscherin über steigende Coronazahlen: „Eine Vollbremsung mache…
> Angesichts rasant steigender Infektionszahlen in Deutschland fordert
> Wissenschaftlerin Viola Priesemann: Wir müssen jetzt gegensteuern.
Bild: Die eine Hälfte des Erfolgs ist die Kontaktverfolgung durch die Gesundhe…
taz: Frau Priesemann, Sie untersuchen mit Ihrem Team am Max-Planck-Institut
den Verlauf der Coronapandemie. Wie gut lassen sich Vorhersagen für die
nächsten Wochen treffen?
Viola Priesemann: Die nächsten Tage sind einfach vorherzusagen. Eine
Pandemie ist ein träges System, das sich nicht plötzlich verändert. Ein
paar Wochen in die Zukunft zu projizieren ist schwer. Wir haben im Frühjahr
gesehen, dass sich die Fallzahlen sehr stark ändern, wenn sich das
Verhalten der Menschen stark verändert. Aber leider lässt sich mit
Sicherheit sagen, dass die Sterberate auf mindestens 150 bis 300 Menschen
pro Woche steigen wird. Das folgt klar aus den jetzigen Infektionen.
Die Durchschlagskraft des Virus hat sich nicht abgeschwächt?
Nein. Wir können die derzeit relativ niedrige Todesrate weitgehend über die
Altersstruktur der Erkrankten erklären. Der jetzige Ausbruch traf bisher
vor allem Jüngere, das ändert sich derzeit. Deshalb sind bisher kaum mehr
Menschen gestorben.
Kann man aus der ersten Welle lernen, dass die Fallzahlen entweder stark
steigen oder stark sinken?
Das nicht. Wir haben in einer Studie untersucht, wie gut die
Gesundheitsämter Kontakte von Infizierten nachvollziehen. Darin konnten wir
zeigen, dass die Fallzahlen über einen längeren Zeitraum stabil niedrig
bleiben können. Im Juni, Juli oder August gab es nur einen ganz leichten
Anstieg. Das lag daran, dass fast alle Infektionen identifiziert und
nachverfolgt worden sind und Infektionsketten gestoppt wurden. Die ältere
Bevölkerung war dadurch gut geschützt.
Aber warum geriet [1][auf einmal alles außer Kontrolle]? Weil die Leute
sich wieder mehr drinnen aufhalten?
Das ist nicht notwendig. Es gibt einen Kipppunkt, und der ist sehr wichtig:
Wenn die Fallzahlen zum Beispiel in einer Region stark ansteigen, dann
kommen die Gesundheitsämter nicht mehr mit der Verfolgung der Kontakte der
Infizierten hinterher. Die Folge sind viele Menschen, die das Virus
verbreiten, ohne davon zu wissen – und es so immer weiter tragen. Die
Gesundheitsämter sind dann noch überlasteter. Das ist ein sich selbst
verstärkender Prozess. Es ist wahnsinnig schwer, das wieder einzufangen.
Dieser Kipppunkt kann sehr plötzlich kommen. Durch ein
Super-Spreading-Event, aber auch schleichend, durch langsame
Verhaltensänderungen.
Sind wir schon an dem Punkt?
In vielen Landkreisen eindeutig, in anderen ist die Situation noch
kontrollierbar.
Wäre es demnach sinnvoll, Reisebeschränkungen einzuführen, oder schwappen
die Infektionen ohnehin schon über?
Wir würden uns wünschen, dass Regionen, die noch nicht betroffen sind, von
der zweiten Welle verschont werden. Das könnte man aus theoretischer Sicht
durch radikale Reisebeschränkung erreichen. In Regionen, die stark
betroffen sind, müsste man dann die Fallzahlen schnell drücken, um die
Maßnahmen wieder aufheben zu können. Das wären starke Einschnitte für die
Betroffenen, aber man könnte recht schnell wieder eine Kontrolle über die
Ausbreitung erlangen.
Es geht bei der Eindämmung ja auch um politische Durchsetzbarkeit und
Konflikte mit Grundrechten.
Klar, alle Maßnahmen lassen sich nur durchsetzen, [2][wenn sie die
Bevölkerung versteht und mitträgt]. Was wir erklären wollen: Wenn die
Infektionszahlen niedrig sind, dann können alle wesentlich mehr Freiheiten
genießen als bei hohen Fallzahlen. Durch die Freiheiten riskieren wir zwar
mehr Ansteckungen, die können aber von den Gesundheitsämtern nachvollzogen
werden, solange die Fallzahlen niedrig sind. Die Gesundheitsämter tragen
damit die eine Hälfte bei, um die Pandemie zu kontrollieren, die andere wir
alle, durch Einhaltung der AHA-Regeln.
Aber je länger es niedrige Infektionszahlen gibt, desto leichtsinniger
werden die Menschen, oder?
Klar, über den Sommer haben sich alle mehr Freiheit gegönnt. Aber das ist
ja im Sinn der Sache. So lernt man. Dann sollte man aber konsequent sein
und in dem Moment, in dem das System kippt, die Bremse ziehen.
Was heißt das im Hinblick auf Weihnachten?
Mein Wunsch wäre, dass wir jetzt einfach mal ein bis zwei Wochen richtig zu
Hause bleiben, bis die Fallzahlen wieder runtergehen. Wenn wir jetzt eine
Vollbremsung machen, dann können wir Weihnachten auch unbesorgt mit unseren
Großeltern feiern. Oder mit anderen Risikopersonen.
Können wir vom Ausland lernen?
Deutschland hat ja Glück, weil schon die erste Welle erst später hier
ankam. Dadurch wussten wir, was auf uns zukommt. Man kann auch nach
Australien schauen: Da ist die zweite Welle inzwischen schnell abgeflaut,
weil es einen frühen Lockdown gab. Da war die Situation zügig wieder unter
Kontrolle.
Ist das zum Verzweifeln? Man hat die richtige Medizin, aber die
Ministerpräsident*innen letzte Woche schlucken sie einfach nicht?
Nein, ich verstehe die Güterabwägungen der Politik sehr gut. Ich versuche
lediglich, das Verständnis der Dynamik zu verdeutlichen: Klar haben wir
noch Luft nach oben, gerade, was die Situation in den Krankenhäusern
angeht. Aber es ist so viel einfacher für die Menschen, die Schulen, die
Wirtschaft, das Wohlbefinden, die Zahlen jetzt unten zu halten. Wirtschaft
und Gesundheit sind da ausnahmsweise kein Widerspruch. Wenn wir die
Situation wieder unter Kontrolle haben, dann kann man auch ins Theater,
ins Kino oder auf ein Konzert.
Braucht es dazu nicht einen Impfstoff?
Nein, wenn die Fallzahlen niedrig sind, dann gibt es fast keine
Dunkelziffer. Die Wahrscheinlichkeit ist dann extrem gering, sich
anzustecken, weil es ja kaum jemand gibt, der infiziert ist und das Virus
unwissentlich verbreitet. Wir hatten im Sommer auch immer wieder
Superspreading-Events, die konnten die Gesundheitsämter wieder einfangen,
weil die Fallzahlen insgesamt niedrig waren. Aber die Dunkelziffer steigt
disproportional schnell an, wenn die Situation außer Kontrolle gerät.
Woher wissen Sie denn, wie hoch die Dunkelziffer ist, die ja per Definition
eine unbekannte Größe ist?
In Landkreisen, in denen die Pandemie unter Kontrolle ist, sehen wir, dass
die Gesundheitsämter fast alle Fälle entdecken und die Leute isolieren. Das
ist sehr beeindruckend. Es gibt eine relativ einfache Formel über die
Sterberate: Wenn Sie sich mit 80 Jahren mit Covid-19 infizieren, liegt die
Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, bei rund 10 Prozent. Mit 60 liegt sie
bei einem Prozent, mit 40 bei 0,1 Prozent. Es gibt zwei unabhängige
Forschergruppen, die weltweit Studien ausgewertet haben und zu diesen
Ergebnissen kommen. Wir können also aus der Zahl der beobachteten
Covid-19-Fälle und der Sterberate auf die Dunkelziffer schließen.
Schaffen wir es, die zweite Welle schnell zu brechen?
Ja, wenn wir sofort handeln. Und nicht erst in drei bis vier Wochen.
19 Oct 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Ingo Arzt
## TAGS
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