# taz.de -- Virologe über Corona und Antigentests: „Ein gefährliches Gesch�… | |
> Wird Sars-CoV-2 im ÖPNV übertragen? Der Freiburger Virologe Hartmut | |
> Hengel sagt, da gebe es eine Datenlücke. Und warnt vor neuen | |
> Antigentests. | |
Bild: Ob und wie viele Menschen sich im öffentlichen Nahverkehr anstecken, ist… | |
t az: Herr Hengel, die Corona-Infektionszahlen steigen rasant an. Lässt | |
sich die Pandemie überhaupt noch lokal oder regional eindämmen? | |
Hartmut Hengel: Das hängt davon ab, wie wir als Gesellschaft uns gegen das | |
Virus verhalten. Es gibt erfolgreiche Beispiele der Viruskontrolle, wenn | |
man nach Japan blickt oder nach Vietnam, [1][Südkorea] oder nach | |
Neuseeland, das sind sicher die Länder, die bisher am erfolgreichsten damit | |
umgegangen sind. Sie zeigen, dass man die Virusausbreitung mit einer | |
konsequenten Strategie und Eindämmungsmaßnahmen durchaus auch unter | |
ungünstigen Bedingungen kontrollieren kann. Diese Beispiele sind Grund für | |
Optimismus. Es ist einfach die Frage, wie gut organisieren wir uns in | |
Deutschland und wie gut halten wir als Gesellschaft zusammen. | |
Wie gut ist die bisherige Strategie Deutschlands? | |
You can always do better. Ja natürlich können wir noch besser werden, aber | |
im Vergleich zu anderen Ländern haben wir in der ersten Welle vielen | |
Menschen das Leben gerettet. Inzwischen wissen wir über das Virus noch | |
einiges mehr. Also sind die Ausgangsvoraussetzungen für die Kontrolle der | |
zweiten Welle insgesamt objektiv gar nicht so schlecht. Es hängt jetzt | |
[2][von uns ab]. | |
Dabei sind die Maßnahmen hierzulande gar nicht so strikt: Längst fahren | |
hier wieder volle Busse und Bahnen, während der [3][ÖPNV etwa in | |
Argentinien] seit März drastisch heruntergefahren ist. Warum wird die | |
Infektionsgefahr international so unterschiedlich bewertet? | |
Das liegt daran, dass es nur sehr begrenzt verlässliche, harte | |
wissenschaftliche Daten zur Übertragung in öffentlichen Verkehrsmitteln | |
gibt. Es gibt wenige konkrete Infektionsketten, die man zurückverfolgen | |
konnte. Das heißt natürlich nicht, dass es solche Übertragungen nicht gibt. | |
Da sie aber nicht ausreichend dokumentiert sind, gibt es in dieser Hinsicht | |
einen großen Ermessensspielraum, und der wird in Argentinien anders | |
gehandhabt als in Deutschland. | |
Warum ist es so schwierig, Ansteckungen auf Bus und Bahn zurückzuführen? | |
Dort werden bei der Nutzung ja keine Adressen hinterlegt. Wenn man sich | |
jetzt aktuell bei den Gesundheitsämtern erkundigt und feststellt, dass die | |
Mehrheit der gemeldeten Infektionen gar nicht mehr rückverfolgbar ist, dann | |
könnte das natürlich durchaus auch so interpretiert werden, dass immer mehr | |
Infektionen in öffentlichen oder halböffentlichen Räumen stattfinden. | |
Dann liege ich nicht falsch, wenn ich mich auch mit Maske frage, wie sicher | |
es ist, mich nach Feierabend in den übervollen Linienbus mit Abständen | |
deutlich unter einem Meter zu quetschen? | |
Streng wissenschaftlich gibt es bisher wenig valide Berichte, die wirklich | |
beweisen, dass es in solchen Situationen des öffentlichen Nahverkehrs zu | |
Übertragungen gekommen ist. Aber die Plausibilität spricht dafür, abhängig | |
davon, wie dicht das Verkehrsmittel ist, wie die Belüftungsverhältnisse | |
sind und welche persönlichen Schutzmaßnahmen man praktiziert. | |
Reicht es als Belüftung, wenn im Linienbus an jeder Station die Türen | |
geöffnet werden? | |
Wenn sich viele Menschen in einem Abteil aufhalten, das nicht belüftet ist, | |
und jemand ist dabei, der das Virus über Aerosole verteilt, dann gibt es | |
eine Infektionsgefährdung. Deswegen ist es der Mund-Nasen-Schutz oder eine | |
FFP2-Maske so wichtig. Sie sind eine Barriere bei dem, der infiziert ist | |
und bei dem, der durch die Virusausscheidung exponiert wird. Die | |
Erfahrungen aus den Krankenhäusern zeigen, dass man dadurch die Übertragung | |
deutlich reduzieren kann. Langfristig erhoffe ich mir allerdings, dass | |
Forschung, Entwicklung und Industrie weitere technische Möglichkeiten der | |
Luftsterilisation erarbeiten. | |
Immer mehr Städte erlassen an stark frequentierten Straßen eine | |
Maskenpflicht. Besteht unter freiem Himmel überhaupt ein nennenswertes | |
Risiko? | |
Ich kann mir vorstellen, dass das Ansteckungsrisiko auch steigt, wenn viele | |
Menschen unter freiem Himmel in einer Schlange stehen und dort eben keinen | |
Abstand halten. Aber von einem vorbeifahrenden Radfahrer infiziert zu | |
werden, das halte ich für wenig wahrscheinlich. | |
Und im Supermarkt oder beim Friseur? | |
Es besteht kein hohes Risiko, aber es bleibt doch ein gewisses Risiko. Ich | |
persönlich gehe zum Friseur – mit Mund-Nasen-Schutz. | |
Man hat den Eindruck, dass trotz mehreren Monaten Datenerhebung eigentlich | |
weniges sicher ist. Stimmt das? | |
Es gibt Virusübertragungen, die sehr gut dokumentiert sind, zum Beispiel in | |
Schlachthöfen oder bei großen Hochzeiten oder großen Gottesdiensten oder | |
Partys, das ist alles recht gut belegt. Aber zu dem relativen Risiko, das | |
von Kontakten in der Bahn oder der Straßenbahn ausgeht, wissen wir noch | |
wenig. | |
Viele Menschen haben Angst vor der Schmierinfektion, überall wird | |
desinfiziert und doch gab zuletzt Klaus Reinhardt, Präsident der | |
Bundesärztekammer, medienwirksam Entwarnung. | |
Man kann nicht definitiv ausschließen, dass man das Virus auch dadurch | |
aufnehmen kann, dass man mit ungeschützten Händen eine infizierte | |
Oberfläche berührt und sich dann ins Gesicht fasst. Wenn man alle | |
Erkenntnisse der letzten Monate zusammennimmt, ist aber wahrscheinlich die | |
Übertragung über Aerosole dominierend. | |
Bei der Spanischen Grippe ist die zweite Welle deutlich schlimmer | |
ausgefallen als die erste. Wird uns das in Deutschland mit Covid-19 auch | |
passieren? | |
Ich wage da keine Prognose. Ich hoffe natürlich, dass wir gelernt haben und | |
das Virus im Griff behalten. Eigentlich sind wir jetzt besser vorbereitet, | |
wir haben mehr Ausrüstung und eine bessere klinische | |
Organisationserfahrung, um auch auf lokale Häufungen von schwer kranken | |
Patienten reagieren zu können. Die Spanische Grippe ist in vielerlei | |
Hinsicht anders abgelaufen. Sie betraf vor allem junge Erwachsene. Jetzt | |
haben wir eine ganz andere Situation: Es geht um vor allem um den Schutz | |
älterer Menschen, um vorerkrankte Menschen, um Herz-Kreislauf-erkrankte | |
Menschen. | |
Wenn es um die allgemeinen Zahlen geht, bemängelt etwa das Ifo-Institut, | |
dass die Daten auf Länder- und Regionalebene schon in Deutschland schwer | |
vergleichbar seien. Ist das tatsächlich ein Problem? | |
Jeder Wissenschaftler kämpft gegen Datenlücken, und natürlich bin ich auch | |
dafür, die Datenqualität zu verbessern. Aber ich denke, wir haben insgesamt | |
eine recht gute Datenlage. Die allgemeinverständliche Kommunikation der | |
Daten wurde kritisiert, natürlich können wir uns auch in dieser Hinsicht – | |
gemeinsam mit den Medien – verbessern. Andererseits wissen wir ziemlich | |
genau, wie viele Tests in Deutschland durchgeführt werden. | |
Halten Sie Testungen von kommerziellen Anbieter*innen für sinnvoll, um die | |
Labore zu entlasten? | |
Schlecht wäre es – und leider tut die Politik dies gerade -, immer mehr | |
Tests von Veterinärinstituten oder nicht akkreditierten Einrichtungen, in | |
denen es keine Fachleute gibt, durchführen zu lassen. Testungen sollten von | |
Expert*innen durchgeführt und interpretiert werden, wenn man verlässliche | |
Diagnosen und Zahlen haben will. Und übrigens braucht man auch valide | |
Testmethoden. Derzeit werden ja vorgeblich preiswerte und schnelle | |
Antigentests propagiert – die halte ich aber für höchst problematisch. | |
Was ist an den Antigentests problematisch? | |
Sie sind bisher nicht hinreichend validiert, aber trotzdem abrechnungs- und | |
erstattungsfähig und daher ein neues, gefährliches Geschäftsmodell, also | |
werden manche Menschen sie fordern und Ärzte sie anwenden. Was bislang über | |
sie bekannt ist, zeigt aber eine sehr erhebliche Sensitivitätslücke. Wenn | |
nur jeder zweite Neuinfizierte als solcher erkannt wird, ist das in meinen | |
Augen fatal. Denn die Infizierten, die nicht erkannt wurden, laufen dann ja | |
weiter herum und können andere Menschen anstecken. | |
Ist das schon vorgekommen? | |
Genau solche Fälle haben wir gerade erlebt. Wenn Sie mich fragen, was wir | |
tun müssen, um die zweite Welle erfolgreich zu verhindern, dann ist das ein | |
entscheidender Punkt: Es geht nicht nur darum, dass die Bevölkerung | |
motiviert wird, Masken zu tragen. Es geht auch darum, dass die Politik | |
keine untauglichen Tests zulässt. Hier besteht Handlungsbedarf, und zwar | |
dringend. | |
26 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Suedkorea-in-der-Coronakrise/!5708605 | |
[2] /Coronainfektionen-in-Deutschland/!5723030 | |
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## AUTOREN | |
Maximilian Berkenheide | |
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