| # taz.de -- Umstrittene Wildtierhaltung: Jetzt mal ganz natürlich | |
| > Zoos versprechen heute, ihre Tiere artgerecht zu halten. Doch wie viel | |
| > Natur ist dort möglich? Und sind Zoos überhaupt noch zeitgemäß? | |
| Bild: Tiger Boris beim Ziegen-Dinner im Zoo Odense | |
| Zuerst knipst Boris der Ziege den Kopf ab. Er erledigt das fachmännisch, | |
| nahezu lautlos und mit einer Leichtigkeit, die erahnen lässt, wie viel | |
| Kraft der Kiefer eines ausgewachsenen Sibirischen Tigers hat. Boris hat | |
| keine Eile, er kaut am Genick des toten Bocks herum, mit einer Tatze auf | |
| dem Ziegengesicht, als sei ihm der starre Blick unangenehm. | |
| Dann richtet er sich auf und verkeilt sich in der Schulter seiner Beute, | |
| die immer noch an einem Drahtseil über dem Boden baumelt. Er zerrt an ihrem | |
| Kadaver, bis das Fleisch nachgibt. Ein lauter Ratsch ist zu hören, als | |
| würde man ein Kleid zerreißen. Ziegeninnereien stürzen mit einem satten | |
| Klatschen auf den Rasen. Vor dem Gehege deutet ein kleines Mädchen auf | |
| Boris und kichert, ihre Mutter schüttelt angewidert den Kopf. „Ich weiß, | |
| das ist ein Tiger, ich weiß, das ist Natur“, sagt sie. „Aber das ist mir | |
| einfach zu brutal.“ | |
| Blutige Raubtierfütterungen wie diese gehören im Zoo von Dänemarks | |
| drittgrößter Stadt Odense zur normalen Besucherbespaßung. Und sie sind in | |
| einem Jahr, in dem es coronabedingt nur wenige Unterhaltungsmöglichkeiten | |
| gibt, eines der wenigen verbliebenen Freizeitangebote. | |
| Vor einer Woche stand Säbelantilope auf dem Speiseplan, diesmal der | |
| Ziegenbock, mit dem die Kinder keine zwei Stunden zuvor noch im | |
| Streichelzoo geschmust haben. Der Bock musste sterben, weil er sonst Mutter | |
| und Schwestern gedeckt hätte und das Gehege zu voll zu werden drohte. Eine | |
| solche Tötung ist für Dänemarks Zoos ein üblicher Vorgang, hier gibt es | |
| keine Geburtenobergrenzen, die Vermehrung wird im Nachhinein reguliert. | |
| Und eigentlich ist es ja auch sinnvoll, das Fleisch aus dem Zoo auch im Zoo | |
| zu verfüttern. Die Wege sind kurz, die Innereien haben viele Nährstoffe und | |
| die Raubtiere sind besser beschäftigt, als wenn man ihnen mundgerechte | |
| Steaks ins Maul wirft. „Wir zeigen die Natur so echt, wie wir können“, sagt | |
| Zoodirektor Bjarne Klausen und hebt vor dem Tigergehege ein zerknülltes | |
| Butterbrotpapier vom Boden auf. „Doch die Natur ist manchmal grausam.“ | |
| Mit grausamer Natur haben wir Menschen es aber oft nicht so. Wenn wir | |
| ehrlich sind, wollen wir gar nicht so genau wissen, wie sie wirklich ist. | |
| Wir mögen es lieber romantisch, und bitte nicht so eingepfercht wie es | |
| früher war, als man die exotischen Tiere noch in viel zu kleinen Käfigen | |
| hielt. Geräumig, luftig und artgerecht soll es heute sein und der Ausflug | |
| in den Zoo zum Wohlfühlerlebnis für Mensch und Tier werden. Ein | |
| anspruchsvoller Wunsch – und die zoologischen Gärten versuchen, diesem | |
| Wunsch zu entsprechen. | |
| Dabei hatten sie früher mal einen anderen Auftrag, nämlich den, Sensationen | |
| zu zeigen. Doch heute dreht sich alles um den Artenschutz. Die Zoobetreiber | |
| sagen, sie halten Tiere, um sie vor dem Aussterben zu bewahren und um uns | |
| Besuchern die Natur nahe zu bringen. Weil wir nur schützen würden, was uns | |
| wichtig sei, und nur das wichtig, was uns nah und vertraut ist. [1][An die | |
| 800 Zoos gibt es allein in Deutschland] und damit mehr Tierparks als in | |
| jedem anderen Land. Jede Menge Einrichtungen also, die es sich zur Aufgabe | |
| gemacht haben, Tiere artgerecht zu behandeln. | |
| Aber woher wissen wir, wie Tiere behandelt werden wollen? Und geschieht das | |
| alles wirklich in ihrem Sinne? Oder gar in unserem eigenen? | |
| Das Verfüttern von ganzen Schmuseziegen, Pferden und Rindern, Zebras oder | |
| Gnus, wie im dänischen Odense Zoo üblich, findet hierzulande deutlich | |
| seltener und eher hinter den Kulissen oder nach den Öffnungszeiten statt. | |
| Überhaupt bekommen die Raubkatzen in deutschen Zoos vorwiegend Geflügel, | |
| Kaninchen oder bereits zerlegte, größere Tiere. Für eine Keule oder ein | |
| Stück Rücken haben wir schließlich weniger Mitgefühl übrig als für eine | |
| ganze Ziege – das kennen wir von der Fleischtheke. | |
| Und selbst die Dänen machen nicht alles mit. Spätestens bei Affen, einer | |
| natürlichen Nahrungsquelle von Tigern, sei auch deren Schmerzgrenze | |
| erreicht, sagt Odenses Zoodirektor Bjarne Klausen. „Einen Makaken | |
| verfüttern, das würden unsere Gäste nicht mitansehen wollen.“ | |
| Aber wenn wir zwar echte Tiere, doch die Natur in ihrer Echtheit nicht | |
| wollen, was wollen wir stattdessen? | |
| Unter dem Namen „Zoo der Zukunft“ entsteht im Norden von Leipzig ein | |
| moderner Entwurf unserer Wunschnatur. Gleich nach dem Tiergarten Schönbrunn | |
| in Wien belegt er schon jetzt Platz zwei der besten Zoos in Europa. „Wir | |
| wollen Tierarten erhalten und den Leuten Naturerlebnisse bieten“, sagt Jörg | |
| Junhold, der den Leipziger Zoo seit 1997 leitet. Er schlendert über die | |
| Baustelle in der Nähe des Eingangs, wo bis zum nächsten Jahr ein | |
| großzügiges Aquarium entstehen soll. Die geplanten Elemente zeichnet er mit | |
| beiden Händen in die Luft: vorn der Koi-Teich, hier der Quallenkreisel, | |
| dahinter das Tiefseebecken. Es folgt eine kleine Werbeeinlage: „Unsere | |
| Besucher tauchen in den Lebensraum der Tiere ein. Bei uns erleben sie die | |
| Tiere als Botschafter der Wildnis, nicht als Statisten in einer Show.“ | |
| Mehr als 100 Millionen Euro hat Junhold für die Umgestaltung seines Zoos | |
| investiert. Sechs Themenwelten gibt es bereits, darunter eine riesige | |
| Tropenhalle namens „Gondwanaland“ und die angeblich weltgrößte Affenanlage | |
| „Pongoland“. | |
| Jetzt sollen neben dem Aquarium noch ein Feuerland mit Unterwassertunnel | |
| und eine asiatische Inselwelt mit neuen Volieren entstehen. „Wir bauen mit | |
| naturnahen Materialien, schaffen großzügigere Rückzugsorte“, erklärt der | |
| Direktor. Und dann sagt er noch etwas Interessantes: „Das Hauptaugenmerk | |
| bei der Umgestaltung liegt auf den Tieren, weniger auf unseren Besuchern.“ | |
| Die Besucher sollen natürlich immer noch Tiere beobachten können, aber die | |
| Art und Weise ihrer Zurschaustellung hat sich geändert. Kein Mensch würde | |
| sich heute freiwillig die im 18. Jahrhundert übliche Tierhaltung ansehen | |
| wollen, wie sie etwa in der Schönbrunner Menagerie in Wien praktiziert | |
| wurde. Der Kaiser hatte dort Elefanten, Bären und Großkatzen hinter die | |
| grünen Gitterstäbe winziger Pavillons geklemmt. Seinem Beispiel folgten | |
| andere europäische Großstädte, mit dem fragwürdigen Ziel, möglichst viele, | |
| möglichst exotische, möglichst gefährlich wirkende Tiere auf engstem Raum | |
| zu präsentieren. Sensationen zum kleinen Preis. | |
| Damit die lebenden Ausstellungsobjekte nicht allzu schnell dahinsiechten, | |
| änderte man mit der Zeit die Zooarchitektur. Die Bauten wurden | |
| funktionaler, hygienischer, hässlicher und die Tiere starben nun nicht mehr | |
| hinter Schmuckzäunen, sondern in leicht zu reinigenden, gefliesten Zellen. | |
| Das ging eine Weile so dahin, bis Carl Hagenbeck Anfang des 20. | |
| Jahrhunderts in Hamburg-Stellingen einen Tierpark eröffnete, der neue | |
| Maßstäbe setzte mit seinen großzügigen Freianlagen und der meisterlich | |
| angelegten „wilden“ Natur. | |
| Die meisten Zoos folgten seinem Beispiel, fortan sollten die Menschen | |
| echtes Tierleben statt bloß Tiere sehen. Doch die Tierhaltung war in vielen | |
| Belangen unzureichend, wegen zu wenig Geld oder zu wenig Erfahrung. Die | |
| Zoos zeigten so viele Tierarten wie möglich. So blieb für die Tiere nur | |
| wenig Platz und für das Personal nur wenig Zeit, sich mit ihnen zu | |
| beschäftigen. Die Folge: physische und psychische Krankheiten, Wunden und | |
| Verhaltensstörungen. Die Bären, Elefanten und Großkatzen wirkten gestresst, | |
| verletzten sich selbst, liefen ihr Gehege auf und ab. | |
| Heute gehören diese traurigen Zeiten der Vergangenheit an, jedenfalls fast. | |
| Stephan Hering-Hagenbeck, Carl Hagenbecks Schwiegerenkel, wechselte Anfang | |
| des Jahres vom Hamburger Tierpark Hagenbeck nach Wien. In der Hansestadt | |
| war er für die großen Panoramen und Grabenanlagen verantwortlich gewesen, | |
| für das Tropenaquarium, die Elefantenfreilaufhalle, das Eismeer. Im | |
| Tiergarten Schönbrunn krempelt er nun den ältesten Zoo der Welt um. Die | |
| grünen Gitterstäbe müssen allerdings bleiben, die stehen unter | |
| Denkmalschutz. | |
| Links vom Restaurant im Kaiserpavillon betrachtet Hering-Hagenbeck den | |
| Geparden durch das grüne Gitter. Die Katze putzt sich in ihrem Gehege, das | |
| ein bisschen nach einem zugewucherten Schrebergarten aussieht. „Schönbrunn | |
| ist tief in der Kultur der Stadt verwurzelt“, sagt der neue Direktor. „Wir | |
| müssen mit der Umgestaltung behutsam umgehen.“ Er spricht von „Landscape | |
| Immersion“, so nennt sich das, wenn man dem Besucher glauben machen will, | |
| sich in der natürlichen Umgebung des Tiers aufzuhalten. | |
| Dazu bedarf es einiger architektonischer Kniffe: Steine oder Pflanzen als | |
| natürliche Begrenzungen, versteckte Gräben, verschlungene Pfade. Der | |
| Hagenbeck’schen Idee sind da alle Gitter und Wände im Weg. Aber das sei | |
| eher das Problem unseres ästhetischen Empfindens, sagt er, nicht das | |
| Problem des Tieres. „Wir schaffen mehr Platz, wir bieten Verstecke, wir | |
| setzen naturnah um und versuchen, unseren Besuchern die Zusammenhänge des | |
| Lebens so besser begreifbar zu machen.“ | |
| Wie bei der Eisbärenwelt, wo die Leute über mehrere Terrassen Bärenmama | |
| Nora und ihr Jungtier beobachten können. Oder auch mal minutenlang gar | |
| nichts sehen, wenn die beiden sich vor den neugierigen Blicken verstecken. | |
| Die Verweildauer vor den Gehegen ist eine wichtige Währung in der | |
| Zooplanung. Die Menschen sollen sich Zeit nehmen für ihren Besuch, sagt | |
| Hering-Hagenbeck. Sie sollen suchen, entdecken und dabei auch noch etwas | |
| lernen, über den Umgang mit der Natur, und was wir dem Planeten antun. | |
| So verwandeln sich die Zoos gerade in irgendetwas zwischen Freizeitpark und | |
| Schutzstation. Nicht nur in Wien und Leipzig ist das so, sondern überall, | |
| wo sich Zoos ein teures Makeover leisten können. Im Tierpark Berlin | |
| entsteht in den nächsten zwei Jahren eine riesige Elefantenanlage, direkt | |
| daneben wurde gerade das alte Alfred-Brehm-Haus neu eröffnet. Die ehemalige | |
| Tropenhalle ist nun ein Regenwald, in dem man nicht nur Tiere angucken | |
| kann, sondern auch etwas über bedrohte Lebensräume, Rodungen und | |
| Palmölplantagen lernen soll. Und der Zoo Krefeld plant nach einer | |
| Brandkatastrophe zu Silvester einen Affenpark, in dem sich alles um den | |
| Artenschutz dreht, während Hannover fortwährend seine Afrikalandschaft | |
| erweitert, wo man die Flusspferde, Antilopen und Marabus vom Boot aus | |
| beobachten kann. | |
| Wir gehen also künftig mehr auf Safari als in einen Zoo und wollen dort | |
| echte, gesunde und glückliche Tiere erleben, sofern das in menschlicher | |
| Obhut überhaupt möglich ist. In echter, natürlicher Umgebung, aber ohne | |
| dänische Grausamkeiten, versteht sich. Ach, wie sehr sind wir doch von den | |
| Tieren abhängig, die uns als Nahrungsquelle, Kleiderspende, Kuschelersatz | |
| und Entertainer dienen. Manche Menschen meinen, es sei unser gutes Recht, | |
| sie als Ressource zu nutzen, andere sagen, wir haben überhaupt kein Recht | |
| dazu. Die meisten aber sehen einen gewissen Spielraum darin, wann es okay | |
| ist, sie zu halten, und wann nicht. Dass es dabei oft mehr um unsere | |
| eigenen Bedürfnisse als um die Bedürfnisse des Tiers geht, wird da gern mal | |
| übersehen. | |
| Wie man Wildtiere korrekt halten soll, beschreibt der Weltverband der Zoos | |
| und Aquarien in seiner Tierschutzstrategie. Der Kern der Strategie ist ein | |
| Modell, demzufolge sich die vier physischen Faktoren „Ernährung“, „Umwel… | |
| „Gesundheit“ und „Verhalten“ auf den fünften Faktor, den mentalen Zust… | |
| das Wohlbefinden des Tiers auswirken. | |
| „Die modernen Zoos, die Erfahrung mit Wildtieren haben, mit der Forschung | |
| zusammenarbeiten und über das nötige Geld verfügen, machen ihren Job in | |
| vielen Bereichen gut. Alles andere wäre auch nicht wirtschaftlich, weil der | |
| aufgeklärte Zoobesucher entsprechende Erwartungen hat“, sagt James Brückner | |
| vom Deutschen Tierschutzbund. Aber: „Trotzdem gibt es in jedem Zoo viel zu | |
| verbessern.“ Immerhin würden sich die Zoos unter dem Dach des Verbands der | |
| Zoologischen Gärten (VdZ) an die Mindestanforderungen halten, die Medizin | |
| und Tierpflege gemeinsam mit dem Tierschutzbund erarbeitet haben. Die | |
| vielen hundert deutschen Einrichtungen jenseits der 71 VdZ-Zoos täten | |
| hoffentlich dasselbe. | |
| Natürlich gebe es unterschiedliche Auffassungen darüber, was die fünf | |
| Faktoren der Tierschutzstrategie in der alltäglichen Praxis genau bedeuten, | |
| räumt der Tierschutzexperte ein. So würden Fachleute etwa darüber streiten, | |
| ob Vögel darunter leiden, wenn man ihnen die Federn stutzt. Eine bei | |
| Flamingos, Pelikanen, Kranichen, Gänsen und Enten durchaus übliche Praxis, | |
| bei der die Schwungfedern zweimal im Jahr einseitig an einem Flügel gekürzt | |
| werden, erzählt Brückner. Dadurch fliege der Vogel so schief, dass er | |
| lieber gleich am Boden bleibe. Wie sehr ihn das in seiner Lebensweise | |
| einschränkt, versuchen Studien gerade zu beantworten, aus Sicht des | |
| Tierschutzbunds ist diese Form der Haltung inakzeptabel. | |
| Problematisch sei früher auch die Elefantenhaltung gewesen, sagt Brückner. | |
| Denn die Dickhäuter seien meist aus mehreren Herden zusammengewürfelt | |
| worden und hätten deshalb einen menschlichen Chef gebraucht – der sich mit | |
| einem Elefantenhaken durchsetzte. Heute hätten sich die meisten Zoos zum | |
| Glück auf den geschützten Kontakt verständigt, die Pfleger arbeiteten nicht | |
| mehr im Gehege, sondern auf der anderen Seite der massiven Gitterstäbe. | |
| Aber natürlich ist da noch die Platzfrage. Ein Löwe auf der Jagd streift | |
| kilometerweit durch die Savanne, hat er seine Beute gefangen, bewegt er | |
| sich keinen Zentimeter mehr von ihr weg. Würde er auch ohne Hunger | |
| umherlaufen, einfach, weil er so gern spazieren geht? Katzen sind | |
| energieeffizient, jenseits des Fressens verschlafen sie den Tag, die Großen | |
| in der Wildnis unter den Bäumen, die Kleinen daheim auf der Fensterbank. | |
| Wie viel Platz also braucht ein Tier in Gefangenschaft? „Es gibt Studien | |
| dazu, wann Tiere verhaltensauffällig werden“, sagt Brückner. „Bei | |
| Großkatzen gelten Gehege unter 500 Quadratmetern als problematisch, | |
| allerdings stammen die Untersuchungen meist von den Zoos selbst und sind | |
| damit wenig kritisch.“ | |
| Alles wäre leichter, wenn wir das Tier selbst fragen könnten, aber das geht | |
| natürlich nicht, und ohne tierische Antwort beginnen wir, Analogien | |
| zwischen Mensch und Tier herzustellen. Wir beurteilen es nach unseren | |
| Maßstäben, verleihen ihm menschliche Züge, denn andere kennen wir nicht. | |
| Bei den deutschlandweit rund 45 Millionen Zoobesuchen im Jahr fragen wir | |
| uns hin und wieder, ob sich die Zootiere vielleicht gefangen oder begafft | |
| fühlen, ob sie sich nach Freiheit sehnen, ob sie vermissen, ob sie trauern. | |
| Wir schauen in ihre Augen, versuchen, uns selbst darin zu erkennen – und | |
| scheitern. | |
| Aber vermutlich ist es gerade diese fehlgeleitete Identifikation mit dem | |
| Zootier, die ein viel größeres Verständnis für seine Bedürfnisse | |
| hervorzurufen vermag, als es all die pädagogischen Angebote eines modernen | |
| Zoos mit seinen Schautafeln und Lernboxen, kommentierten Fütterungen und | |
| Unterrichtseinheiten je könnten. | |
| Wenn überhaupt. Tierschutzexperte Brückner bezweifelt, dass da wirklich | |
| etwas hängen bleibt. „Der Großteil der Besucher interessiert sich nicht für | |
| Hintergründe“, sagt er. Keine Untersuchung habe bisher gezeigt, dass jemand | |
| nach einem Zooausflug sein Leben änderte. Vielmehr würde der Besucher im | |
| Durchschnitt weniger als eine Minute vor einem Gehege verweilen, viel Zeit | |
| zum Lesen bleibe da nicht. | |
| Im Leipziger Zoo steht ein Ehepaar deutlich länger als eine Minute vor dem | |
| Gemeinschaftsgehege von Nashorn und Gepard. Allerdings nicht, um die | |
| Infotafel zu studieren, sondern weil es auf den perfekten Selfiemoment mit | |
| den Tieren wartet. | |
| Dann fragt die Frau Jörg Junhold, ob sich das Nashorn denn mit den Geparden | |
| vertrage, man würde ja gar keine Zäune sehen. Der nickt und antwortet im | |
| besten Zoodirektordeutsch: „Vergesellschaftung fördert das Wohlbefinden der | |
| Tiere. Es ist neben Spielen und Futterverstecken eine von vielen | |
| Möglichkeiten der Beschäftigung.“ Deshalb setzt es sich auch immer mehr | |
| durch, zwei oder mehrere Tierarten in einem Gehege zu halten. In Leipzig | |
| teilen sich unter anderem Giraffen, Zebras, Antilopen und Strauße die | |
| Kiwara-Savanne und die Löffler, Sichler und Flamingos die Lagune. | |
| Auch in Odense wurde vergesellschaftet, allerdings nicht ohne bösen | |
| Zwischenfall. Nachdem sich der dänische Zoo 2011 dazu entschieden hatte, | |
| überhaupt keine Vögel mehr zu beschneiden, hatte er mehrere Vogelarten in | |
| einem Fluggehege untergebracht. Als Erstes gingen die Seriemas auf die | |
| Scharlachibisse los – schlussendlich musste sich der Tierpark von einigen | |
| Arten trennen. Und wirklich fliegen wollten die übrigen Vögel bis heute | |
| nicht, erzählt Direktor Bjarne Klausen während des Besuchs. Nur die | |
| Pelikane drehten jeden Morgen eine kleine Runde, die Flamingos würden sich | |
| die Mühe gar nicht erst machen. | |
| Eine Gruppe besorgter Kinder bittet Klausen, ob er mal drüben ins Oceaneum | |
| gucken könne. Ein Pinguin sehe so aus, als seien seine Füße auf dem Eis | |
| festgefroren. Klausen schmunzelt, geht aber trotzdem gucken. Er trabt durch | |
| die Moorlandschaft über den Holzsteg, vorbei an einem Insektenhotel. Tiger | |
| Boris hat von seiner Ziege nicht viel übrig gelassen, ein roter Kater am | |
| Wegesrand beobachtet die Giraffen. | |
| Giraffe, Zoo, Dänemark – war da nicht was? 2014 empörte der Kopenhagener | |
| Zoo die Welt, als er den gesunden Giraffenbullen Marius aus Platzmangel | |
| erschoss und verfütterte. Die sozialen Netzwerke rasteten aus, die | |
| Zooleitung bekam Morddrohungen. In Odense war kurz zuvor ein Löwe getötet | |
| und vor Publikum zerteilt worden. Groß aufgeregt hatte sich niemand. | |
| „Kopenhagen hat den Fehler gemacht, an die Öffentlichkeit zu gehen, als | |
| Marius noch gelebt hat“, sagt Klausen. Außerdem habe man der Giraffe einen | |
| Namen gegeben, das hätte bei den Leuten Gefühle geweckt. | |
| Auch jetzt liegt wieder ein toter Löwe im Kühlfach in Odense. „Er hat die | |
| Jungtiere angegriffen und wurde immer aggressiver“, nennt Klausen als | |
| Grund. In der Natur wäre er deshalb verstoßen worden, im Zoo hat man ihn | |
| aus mangelndem Platz und fehlender Vermittlungsmöglichkeit nun umgebracht. | |
| Und er ist nur einer von vielen getöteten Zootieren in Dänemark. Seit | |
| Jahrzehnten schneiden dänische Tiermediziner die Bäuche toter Raubkatzen, | |
| Gazellen, Tapire und Kamele auf, versenken ihre Arme in Darmschlingen und | |
| halten Organe in die Luft, während sich Schulkinder die Nase zuhalten und | |
| erblassen. | |
| Was in Dänemark als Anschauungsunterricht gilt, ist in Deutschland | |
| unvorstellbar. Den meisten hierzulande wäre vermutlich schon eine vom Baum | |
| hängende Ziege zu viel, die von einem Tiger zerfetzt wird. Das „Ob“ und | |
| „Wie“ von Tierhaltung berührt unser ethisches Empfinden, es ist ein | |
| ständiges Abwägen von Argumenten, die emotional aufgeladen sind. Wenn wir | |
| uns gegen die Nutzbarmachung von Tieren positionieren, können wir uns | |
| moralisch überlegen fühlen. Wir achten Tiere, um Menschen zu ächten: all | |
| die Jäger und Kammerjägerinnen, die Grillmeister, Lederfans, Zirkusgänger, | |
| Angelfreunde, Reitsportler und Kaninchenzüchter. | |
| Nur sind unsere Standpunkte selten logisch oder konsequent. Wenn wir | |
| zwischen niedlichen und weniger niedlichen Tieren unterscheiden zum | |
| Beispiel. Oder zwischen Tieren, die wir essen und die wir nicht essen. Oder | |
| wenn wir festlegen, wie viel Natur wir tatsächlich vertragen: Natur ja, | |
| aber bitte ohne Kämpfe, Hunger, Krankheit und Tod, die unseren romantischen | |
| Vorstellungen widersprechen. Letzten Endes wollen wir nur eine schöne | |
| Inszenierung sehen – und die Tiere baden das aus. Sollten wir deshalb nicht | |
| besser gleich alle Zoos abschaffen? | |
| Kommt darauf an, ob man zoologische Gärten als Arche oder als Titanic | |
| betrachtet. Der Zoologische Garten Berlin ist der älteste Zoo Deutschlands | |
| – und der artenreichste der Welt. Schon 1844 wurden hier wilde Tiere | |
| gehalten, erst in Massen und mit wenig Erfahrung, dann mit besseren | |
| Kenntnissen. Doch auch in Berlin geht der Trend zu mehr Platz. Nach und | |
| nach werden versiegelte Flächen geöffnet, Gitter abgebaut und Arten | |
| abgegeben, ein paar Vögel und Fische weniger werden die Gäste schon | |
| verschmerzen können. | |
| Unter der Leitung von Andreas Knieriem wurden in den vergangenen Jahren | |
| etliche Anlagen saniert oder werden gerade neu gebaut: im Zoo der | |
| Adlerfelsen, die neue Pandaanlage, aktuell das Raubtierhaus. Im Tierpark, | |
| für den Knieriem ebenfalls verantwortlich ist, die Dschungelwelt im | |
| Alfred-Brehm-Haus, die Elefantenanlage und bald eine riesige Vogelvoliere. | |
| An diesem Tag steht der Zoodirektor vor dem Bärenfelsen im Tierpark in | |
| Berlin-Friedrichsfelde, wo [2][Eisbärmädchen Hertha] mit einer Boje im | |
| Schwimmbecken kämpft. „Sie ist jetzt schon zwei Jahre alt und spielt immer | |
| noch“, erzählt Knieriem und freut sich. Hertha und ihre Mutter Tonja würden | |
| gut fressen und viel schlafen, alles Anzeichen dafür, dass sie sich | |
| wohlfühlten. „Bei uns soll es den Tieren gutgehen. Wir wollen Bewunderung | |
| für sie wecken, kein Mitleid“, sagt er. „Mitleid brauchen die Wildtiere, | |
| die gerade ihren Lebensraum verlieren.“ | |
| Hertha wird die Hauptstadt übrigens bald verlassen. Das länderübergreifende | |
| Erhaltungszuchtprogramm des europäischen Zooverbands EAZA wird die Bärin an | |
| einen anderen Zoo vermitteln, damit sie sich dort paart und Junge bekommt. | |
| Dann könnte auch Vater Wolodja nach Friedrichsfelde zurückkehren und mit | |
| Tonja für den nächsten Eisbärbabyhype sorgen. | |
| An die 300 Zoos sind im EAZA vernetzt, um bedrohte Tierarten zu züchten und | |
| Lebensräume zu schützen. Durch die Zusammenarbeit soll der Genpool besser | |
| durchmischt werden, mit mehr Forschung und ohne Wildfang, der seit den | |
| Siebzigerjahren durch das Washingtoner Artenschutzübereinkommen verboten | |
| ist, zumindest was Säugetiere angeht. Um die 150 Arten will die EAZA durch | |
| koordinierte Zucht gerade erhalten, geklappt hat das unter anderem bei | |
| Wisent, Säbelantilope, Löwenäffchen, Riesenotter, Sumpfschildkröte und | |
| Przewalski-Pferd. | |
| Klingt viel, ist aber ganz schön wenig, verglichen mit den geschätzten 100 | |
| Tierarten, die jeden Tag aussterben. Vier Millionen Euro stecken die Zoos | |
| des Verbands der Zoologischen Gärten jährlich in Artenschutzprojekte, | |
| [3][weltweit sind es knapp 300 Millionen] – da ist Luft nach oben. „Lange | |
| Zeit hatten wir keinen finanziellen Spielraum über die Grenzen unserer | |
| Gehege hinaus“, sagt Andreas Knieriem. „Inzwischen investieren wir in | |
| deutlich mehr Artenschutzprojekte, aber wir brauchen Zeit.“ Mittlerweile | |
| beteilige sich sein Zoo zumindest an den Erhaltungsprogrammen bedrohter | |
| Tiere, die auch in Berlin gezeigt werden: Knapp 1.400 Arten mit insgesamt | |
| 20.000 Tieren beherbergen Zoo und Tierpark zusammen, mehr als ein Drittel | |
| gilt als bedroht. | |
| In der freien Natur leben überhaupt nur noch 4 Prozent aller Säugetiere und | |
| ein Drittel aller Vögel, den Rest hält der Mensch im Stall, auf der Weide, | |
| zu Hause oder im Wald – und eben in den zoologischen Gärten. Wenn wir die | |
| Zoos abschaffen, retten wir nicht die Tiere, sondern höchstens unsere | |
| Moral. | |
| „Tierarten lassen sich nur noch bewahren, indem der Tierschutz eingreift“, | |
| sagt auch Zoodirektor Knieriem. Und das passiert bei wilden Tieren nun mal | |
| vorwiegend im Zoo. Jenseits davon haben sie meistens keinen Platz mehr, den | |
| braucht der Mensch für seine Städte, Felder und Müllhalden. | |
| So unromantisch es auch klingt: Ohne den Menschen wird sich die Tierwelt | |
| nicht mehr vom Menschen erholen. | |
| 17 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://zoos.media/zoo-fakten/wie-viele-zoos-gibt-es/ | |
| [2] /Leere-Zoos-in-Zeiten-von-Corona/!5671142&s=zoo+berlin+hertha/ | |
| [3] https://www.undekade-biologischevielfalt.de/undekade/media/231013042520_454… | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Brandstädter | |
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