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# taz.de -- Grüner Bürgermeisterkandidat in Mitte: Herzschlagfinale im Postst…
> Herausforderer Tilo Siewer fehlen nur wenige Stimmen, um statt
> Amtsinhaber Stephan von Dassel grüner Bürgermeisterkandidat in
> Berlin-Mitte zu werden.
Bild: Gerade so geschafft: Stephan von Dassel nach der Wahl
Berlin taz | Er darf weiter machen. Amtsinhaber Stephan von Dassel ist auch
2021 Bürgermeisterkandidat der Grünen in Mitte, angesichts jüngster
Umfrageergebnisse mit sehr großen Chancen auf eine Wiederwahl. 127 Stimmen
gab es [1][am Samstag bei der Mitgliederversammlung der Partei] für von
Dassel, eine mehr als für die absolute Mehrheit nötig. 115 bekam Tilo
Siewer, der Grünen-Fraktionschef im Bezirksparlament. Vorangegangen war
eine monatelange, teils hart geführte Auseinandersetzung.
Kühl ist am Samstagmorgen die Atmosphäre nicht nur zwischen den beiden
Kandidaten, sondern auch vom Wetter her. Zehn Grad Außentemperatur zeigt
das Thermometer, gegen elf Uhr setzt der Regen ein. Außentemperatur? Bei
dem Parteitreffen gibt es nur „draußen“, denn das Ganze findet auf der
überdachten, aber zugigen Tribüne des Poststadions in Moabit statt,
coronakonform mit Maske und Abstand. Sonst sind hier die Regionalligakicker
vom Berliner AK zuhause, am nächsten Tag steht deren Spiel gegen
Bischofswerda an. In längst vergangenen Jahrzehnten gab es hier auch Finals
um die Deutsche Meisterschaft.
Auch die Abstimmung zwischen von Dassel und Siewer ist ein Endspiel. Voraus
gegangen sind Vorstellungs-Picknicks im Humboldthain – da noch bei
angenehmerem Wetter – und ein digitaler Schlagabtausch einige Tage zuvor.
[2][Streitthemen] waren unter anderem die Räumung von Obdachlosenlagern,
ein härteres Vorgehen am Leopoldplatz und Einschränkungen auf dem
Straßenstrich, worin Siewer keine oder zu wenig grüne Politik erkennen
mochte.
An diesem Samstag scheint alles gesagt, die Argumente sind offenbar
ausgetauscht. Denn an die elfminütigen Reden der beiden schließen sich
gerade mal je drei Minuten Zeit für Fragen an die Kandidaten an. So stellt
das die Tagungsleitung vor, ohne dass sich Widerstand auf der Tribüne regt,
wo rund 260 stimmberechtigte Grüne und ein paar Gäste sitzen.
Von Dassel und Siewer stehen bei ihren Reden auf einem überdachte Podium
vor der Tribüne, das die Partei auf Bahn 4 und 5 der roten Laufbahn
errichtet hat. Dass da seitlich „Berlin wird grün“ dran steht, passt hier
nicht: Dahinter erstreckt sich nämlich schon der tiefgrüne Rasenplatz,
begrenzt von einer dichten Bäumefront. Es ist eine ganz andere Situation
als sonst bei Parteitagen, wo Redner oft von höher stehenden Podien oder
Pulten zur Parteibasis hinab sprechen. Im Poststadion aber hockt das
einfache Mitglied über den Funktionsträgern, wie zur Bestätigung des
Grünen-Anspruchs „Basis is Boss“.
Auf der Tribüne sitzt in grüner Jacke mit Parteischriftzug und gelber
Sonnenblume drauf auch einer, der selbst an diesem Tag gar nicht zur Wahl
steht, in dem aber später manche eine entscheidende Kraft bei der
Abstimmung ausmachen werden. Özcan Mutlu, der frühere Bundes- und
Landesparlamentarier, [3][der zurück in den Bundestag will,] ist mit vielen
im Gespräch und klatscht stark bei von Dassel, genau wie ein größerer Pulk
um ihn herum. Die habe Mutlu zur Unterstützung organisiert, heißt es
später.
Wobei innerparteiliches Mobilisieren grundsätzlich zum Politik-Geschäft
gehört – das soll ja schließlich bei der Parlamentswahl auch außerhalb der
Partei klappen. Und den 260 Mitte-Grünen auf der Tribüne stehen die rund
1.500 restlichen Mitglieder des Kreisverbands – aktuell der größte in
Berlin – gegenüber, die an diesem Samstag nicht ihr Recht nutzen,
herzukommen und über den künftigen Bezirksbürgermeister zu entscheiden.
## Starke Umfrageergebnisse für die Grünen
Offiziell geht es natürlich nur um die Kandidatur. Doch die jüngste
Meinungsumfrage vom Donnerstag sieht die Grünen berlinweit bei 26 Prozent,
klar vor der CDU mit 22 und der SPD mit nur noch 15 Prozent. Diese nun so
schwachen Sozialdemokraten aber waren bei der Wahl 2016 in Mitte noch der
härteste Gegner und lagen am Ende im Bezirk nur um einen Zehntel
Prozentpunkt zurück zurück.
Auf dem grünen Podium zu Füßen der Basis macht von Dassel als Redner den
Anfang – bei den Grünen geht es bei alphabetischer Reihung nach dem
Vornamen, und da kommt Stephan vor Tilo. Was eher ein Nachteil für von
Dassel ist: Wer als Letzter redet, kann kontern und bleibt unmittelbarer im
Ohr. Von Dassel beginnt ein wenig hölzern, bezeichnet sein Amt als
Bürgermeister als teilweise ziemlich anstrengend – aber zugleich sei es für
ihn eben „der tollste Job der Welt“. Wobei nur noch der Zusatz „neben
Papst“ fehlt, den vor Jahren der damalige SPD-Chef Müntefering in einer
ähnlichen Eloge über seinen Parteivorsitz verewigte.
Von Dassel bleibt auch an diesem Vormittag bei dem Ansatz, der ihn seit
seinem Amtsantritt 2016 begleitet. „Ich bin Bürgermeister für alle“, sagt
er, „auch für die, die uns nicht gewählt haben.“ Zu dem, was andere Grüne
in Mitte als CDU-nahe Law-and-order-Politik verstehen, sagt er, dass alle
im Bezirk Plätze und Parks nutzen können müssten „ohne Angst“. Applaus
begleitet seine Worte, der aber nicht gleichmäßig über die Tribüne verteilt
und bei der Gruppe um Mutlu besonders laut ist. Die erste Nachfrage lautet
„Bist Du Feminist?“ Von Dassels Antwort: „Es wäre ein Kompliment, wenn i…
es wäre.“
Siewer hat, in eine Decke gehüllt, auf der Tribüne gesessen und legt sie
vor seiner Rede ab wie ein Boxer im Ring seinen Bademantel – was einen
daran erinnern kann, dass das Poststadion auch mal Ort eines Kampfes von
Max Schmeling war. Ihm gelingt der lockerere Auftritt, die flüssigere Rede.
Es ist eine, die mehrfach zwischen „wir“ und „dem Bezirksamt“
unterscheidet. „Wir“: Das soll die von Siewer geführte Grünen-Fraktion im
Bezirksparlament sein; „das Bezirksamt“ ist von Dassel, dessen Namen er
selbst nicht erwähnt.
Klimaschutz, Jugendhilfegelder, Diversität – all das sind Felder, bei denen
Siewer beim eigenen Bürgermeister zu wenig grüne Politik sieht. „Hier
stehen nicht nur zwei Menschen, sondern auch zwei Politikansätze zur Wahl“,
sagt er und schließt mit der Aussicht, den schon vier Jahre grün regierten
Bezirk solidarischer, bezahlbarer und grüner zu machen.
Der erste Wahlgang sieht von Dassel mit 124 zu 117 Stimmen vorn – dank
elektronischer Abstimmungsgeräte liegt das Ergebnis schon wenige Sekunden
nach Abstimmungschluss vor. Doch weil es sieben Enthaltungen und neun
Nein-Stimmen gibt, reicht das nicht zur nötigen absoluten Mehrheit der
Abstimmenden – ein zweiter Wahlgang muss her.
Zeit für lange Überlegungen oder letzte taktische Absprachen bleibt nicht,
es geht gleich weiter mit der elektronischen Abstimmung. Und dabei legt von
Dassel leicht zu und kommt auf 50,6 Prozent.
Das reicht. Der Bürgermeister jubelt, Siewer gratuliert sofort und
corona-konform per Abfausten. Es ist schon die dritte herbe Niederlage
seiner Karriere: Zwei Mal kandidierte er vergeblich fürs Abgeordnetenaus,
2016 fehlten ihm lediglich elf Stimmen. Und 2013 wollte er in den
Bundestag, scheiterte aber parteiintern – an Mutlu.
Schnell gibt es viele Interpretationen, wer wie und zu welchem Preis wen
unterstützt hat. Und noch deutlicher als vorher schon wird die alte
Fußballer-Regel: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. In einer Woche steht
nämlich der angebliche Wahlentscheider Mutlu selbst zur Wahl, wenn es an
gleicher Stelle um die grüne Bundestagskandidatur in Mitte geht.
Darum bewirbt sich neben ihm, dem 52-Jährigen, die 27-jährige Hanna
Steinmüller, die dem Landesvorstand angehört und 2019 schon bei der
Europawahl antrat. „Das wird das Rückspiel“, kündigt eine führende Grüne
gegenüber der taz an. Was heißt: Mobilisieren auf allen Kanälen, um am 4.
Oktober mehr Leute aus dem eigenen Lager auf die Tribüne zu bringen.
Wettermäßig wird das zumindest laut Vorhersage weniger Überwindung kosten
als an diesem verregneten Samstag: statt starken Regens ist nur mäßiger
angesagt, und mit 14 Grad soll es weniger kühl sein. Wem das nutzt, wer
mehr oder weniger wetterfeste Anhänger hat, bleibt bis dahin offen – was
ein legendärer BVB-Fußballer mal so formulierte: „Grau ist alle Theorie –
entscheidend is auf'm Plat.“ Und dieser Platz, das ist dann erneut die
Poststadion-Tribüne.
27 Sep 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Stefan Alberti
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