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# taz.de -- Grünen-Politiker will in den Bundestag: „Versteckt habe ich mich…
> Özcan Mutlu (52) will für die Grünen im Wahlkreis Mitte zurück in den
> Bundestag – und setzt dabei auf „Vielfalt“.
Bild: Özcan Mutlu, 2020 in Berlin
taz: Herr Mutlu, kennen Sie die Liedtexte von Marius Müller-Westernhagen?
Seine Musik kenne ich natürlich, bei den Texten bin ich nicht so sicher.
In einem heißt es: „Ich bin wieder hier, in meinem Revier. War nie wirklich
weg, hab mich nur versteckt.“ Passt zu jemandem, der vier Jahre aus dem
Bundestag und auch der Öffentlichkeit raus war und nun wieder kandidieren
will.
Versteckt habe ich mich nicht, und ganz weg war ich eigentlich auch nicht.
Ich bin seit 2018 Präsident des Behindertensportverbands Berlin mit knapp
29.000 Mitgliedern. Ich habe mich stärker auf die Themen Inklusion und
Behindertensport konzentriert. Auch von grüner Parteiarbeit war ich nicht
weg, zwar nicht in der ersten Reihe, aber an der Basis habe ich mich mit
Ideen und Anträgen eingebracht und in den Gremien mitgearbeitet.
Manche sagen, der Özcan Mutlu habe nicht den größten Rückhalt in seiner
Partei – nicht die beste Voraussetzung für eine Kandidatur.
Wer in die Politik geht, um Everybody's Darling zu sein, der macht etwas
falsch – wo gehobelt wird, da fallen auch Späne. Und man eckt auch hier und
dort mal an. Dass man nicht immer nur begeisterte Fans hat, gehört dazu.
In Ihrer Bewerbung betonen Sie stark das Thema Diversity, um ihre
Parteifreunde davon zu überzeugen, dass Sie – der Türkeistämmige – der
richtige Kandidat sind. Sie zitieren sogar einen taz-Titel, der die Grünen
„Bündnis90/Die Weißen“ nennt. Warum?
Da muss ich etwas ausholen. Ich bin ein Arbeiterkind, uns wurde nichts
geschenkt, vor allem nicht in der Politik …
… stammen Sie nicht aus dem gleichen Ort wie SPD-Senatorin Kalayci?
Stimmt, wir sind beide aus Kelkit. Der Grund, warum ich wieder in den
Bundestag will, hat mit den Entwicklungen in der Republik zu tun. Ich bin
1990, nach der Wende, bewusst in die Politik gegangen. Ich hatte als
Gastarbeiterkind immer wieder Ausgrenzung und Ungleichbehandlung erfahren,
vor allem in der Bildung, und nach einer Auseinandersetzung an der
Hochschule mit einem rassistischen Professor entschied ich mich, aktiv zu
werden. Draußen vor der TFH, der heutigen Beuth Hochschule, war ein
Infostand der Grünen. Da habe ich mir gesagt: Jetzt hast du genug über
Politik gejammert, jetzt musst du dich einmischen. Am Stand habe ich
gefragt, ob ich mitmachen kann – und die haben mir sofort einen
Mitgliedsantrag in die Hand gedrückt.
Das war vor 30 Jahren.
Das ist es ja: Heute, 30 Jahre später, [1][ist es schlimmer geworden] für
Menschen mit Migrationsgeschichte, anderer Hautfarbe oder sexueller
Orientierung. Da ist die AfD, da ist Hanau, da sind NSU 2.0, Hannibal und
rechte Netzwerke in der Bundeswehr und Polizei. Da lese ich, dass die
Rechten einen Berliner Oberstaatsanwalt als einen der ihren bezeichnen, da
gibt es eine Anschlagserie in Neukölln. All das hat mich zu der
Entscheidung geführt, wieder zu kandidieren.
Das hieße im Umkehrschluss, dass Ihre Parteifreunde, die gerade im
Bundestag sind, sich da nicht genug gekümmert hätten.
Nein, wir Grüne haben uns da nichts vorzuwerfen – als derzeit kleinste
Oppositionsfraktion sind die Möglichkeiten begrenzt, und das ist nicht nur
eine Aufgabe der Grünen. Nichtsdestotrotz, um auf die kürzliche
taz-Schlagzeile „Bündnis 90/Die Weißen“ zurückzukommen: Unsere Bundespar…
hat 2019 eine AG Vielfalt einberufen. Die hat nun ganz konkrete Vorschläge
gemacht [2][und ein Vielfaltsstatut empfohlen], so wie das Frauenstatut von
1986 …
... [3][dessen Folge die Frauenquote war].
Genau, ein Erfolgsmodell, das von jeher hilft, männlich dominierte
Strukturen aufzubrechen. Das Vielfaltsstatut könnte analog zur
Migrantenquote führen. Außerdem hat der Berliner Landesverband der Grünen
Ende 2017 in dem Beschluss „Plural nach Vorne“ festgelegt, die
gesellschaftlichen Realitäten anzuerkennen und mehr Repräsentanz von
Minderheiten in den Strukturen und bei Mandaten zu ermöglichen. Dafür will
ich kämpfen.
Wie viel Quote verträgt eine Partei bei ihrer Kandidatenauswahl, ohne sich
selbst zu knebeln? Mann/Frau, Alt/Jung, Links/Realo, Migrant oder nicht,
Ost/West. Bleibt da noch Platz für die Bestenauswahl?
Die Frage ist nicht, wie viel Quote eine Partei verträgt. Es geht darum,
dass man gesellschaftliche Realitäten abbildet. Fakt ist, dass bei allen
Parteien breite Schichten vom politischen Partizipationsprozess
ausgeschlossen und in den Parlamenten unterrepräsentiert sind. Hier muss
sich etwas ändern.
Bei den Grünen-Parteitagen gibt es aber auch nicht massenhaft Teilnehmer
mit Migrationshintergrund.
Ich rede jetzt erst mal über die Gesamtgesellschaft. Für manche Gruppen –
etwa Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderungen, aber
auch für Ostdeutsche – sind die Hürden so hoch, dass man mit einer
vermeintlichen „Bestenauswahl“ nicht weiterkommt. Ich selbst war bis vor
wenigen Jahren Gegner einer Migrantenquote: Ich habe mich als Arbeiterkind
auch hochgekämpft, obwohl meine Eltern Analphabeten sind. Ich bin
Diplomingenieur und war im Deutschen Bundestag. Wenn man will, dann schafft
man es auch, hatte ich immer gedacht.
Das stimmte bei Ihnen ja auch.
Stimmt, aber in den letzten Jahren ist bei mir die Einsicht gereift, dass
auch in meiner eigenen Partei diese berühmte unsichtbare gläserne Decke
existiert.
Aber Sie hatten es doch in den Bundestag geschafft.
Schauen Sie, wir haben in Deutschland einen Anteil von etwa 25 Prozent von
Menschen mit Migrationsgeschichte, doch im Bundestag sind sie nur mit 8
Prozent vertreten. Dabei braucht man Vorbilder: Als 1994 Cem Özdemir
erstmals in den Bundestag eingezogen ist, war das für viele junge Menschen,
deren Eltern aus der Türkei stammen, etwas ganz Großes – we can do it!
Inhaltlich-programmatisch kann uns Grünen in Sachen Diversity keiner das
Wasser reichen, aber strukturell und personell gibt es schon noch viel Luft
nach oben. Diese Einsicht ist ja da, sonst wäre es ja nicht zur AG Vielfalt
gekommen.
Ihre Bewerbung kann man aber schon so lesen, als ob Sie meinen, dass es
erst mal der Özcan Mutlu ist, der Vielfalt der Grünen abbilden und wieder
in den Bundestag geschickt werden sollte.
Falsch! Es geht mir darum, dass wir als Grüne die Ergebnisse der AG
Vielfalt auch in die Praxis umsetzen. Denn ein Repräsentationsdefizit führt
zu einem Demokratiedefizit. Willy Brandt würde heute sagen „Mehr Vielfalt
wagen“.
Da müssten die Grünen aber erst mal dafür sorgen, mehr Menschen mit
Migrationshintergrund in ihre Partei zu bekommen.
Deshalb müssen wir auch was anbieten! Ich rede viel mit jungen Menschen mit
Migrationshintergrund, und die sagen mir: Bei euch komme ich ja nicht
weiter ohne Vitamin B, oder wenn ich nicht in dem oder dem Flügel bin, habe
ich keine Chance. Die jungen Leute von heute denken eben nicht in
Flügelkategorien.
Muss das Ziel bei einem Parteieintritt gleich ein Posten und ein Mandat
sein? Sollte es nicht erst mal ums Mitmachen gehen?
Mitmachen und gestalten stehen immer an erster Stelle, keine Frage. Aber es
muss auch klar sein, dass darüber hinaus der Weg für bestimmte Gruppen
nicht nur in eine Sackgasse führt. Und wir müssen dem Gefühl der gläsernen
Decke oder der fehlenden Repräsentanz strukturell etwas entgegensetzen.
Aber am Ende geht es doch darum, mit den besten Kandidaten für die Partei
zu punkten – damit die so gut wie möglich abschneidet und dann mehr von
ihrem Programm umsetzen kann.
Wenn es allein um die Hautfarbe oder die Herkunft ginge, könnte es
problematisch werden. Aber glauben Sie mir, niemand will sich darauf
reduzieren lassen. Ein Beispiel aus dem Bereich Polizeinachwuchs: Wer die
Leistungsanforderungen für die Ausbildung erfüllt und zusätzlich noch
Türkisch oder Arabisch kann oder eine anderweitige zusätzliche
Qualifikation mitbringt, wird bevorzugt – das ist doch in Ordnung.
Als Sie 2013 und 2017 für den Bundestag kandidierten, hatten Sie den Grünen
in Mitte versprochen: Ich habe den Zugang zu den migrantischen Wählern, ich
kann die mobilisieren. Stattdessen wurden Sie 2017 nur Vierter, sogar noch
hinter dem nicht sonderlich beliebten CDU-Mann Frank Henkel. Was hat da
nicht funktioniert?
Man muss erstmal sagen, dass dieser Wahlkreis der vielfältigste der
Republik ist. Er besteht aus drei Stadtteilen …
Wedding, Alt-Mitte und Tiergarten …
… die sehr unterschiedlich sind. Wir haben Arme und Reiche, wir haben
Vorstandschefs mit 200.000 Euro Jahresgehalt,
… was ja schon ein relativ armer Vorstandschef wäre…
… und wir haben Tausende, die von Hartz IV leben. Wir haben Penthäuser, wir
haben Obdachlose, wir haben Migranten und harte deutsche AfD-Wähler. Da ist
es immer ganz knapp für SPD, Linkspartei, CDU und Grüne. Hier haben alle
großen Parteien mehr oder weniger das gleiche Ergebnis.
Naja, die Wahlkreissiegerin Eva Högl von der SPD hat immerhin 23,5 Prozent
geholt, Sie nur 18. Knapp ist das nicht gerade.
Die 23, 5 Prozent von Frau Högl waren übrigens das niedrigste Ergebnis, mit
dem bundesweit überhaupt jemand einen Wahlkreis gewann.
Wenn die Hürde so niedrig lag, hätten Sie es doch umso mehr schaffen
müssen.
Ich sag' Ihnen etwas: 2016 haben wir im Bundestag die Armenien-Resolution
beschlossen. Das stieß auf großen Widerstand der Türkei. Ankara hat danach
massiv gegen Abgeordnete mit türkisch-kurdischen Wurzeln im Bundestag
mobilisiert. Das habe ich immer wieder am Wahlkampfstand gemerkt. Erdogan
hat anscheinend großen Einfluss auf die Türkeistämmigen in Deutschland,
auch wenn uns das nicht passt. Das hatte schon einen Nachhall auch für mein
Wahlergebnis.
Sie wollen ja nicht nur im Wahlkreis Mitte antreten, sondern auch einen
aussichtsreichen Platz auf der Grünen-Kandidatenliste. Was heißt das
konkret?
Nach den aktuellen Wahlumfragen kriegen die Berliner Grünen sechs bis
sieben Sitze im Bundestag. Und ich würde gern auf einem aussichtsreichen
Platz stehen. 2017 war ich auf Listenplatz 4 und habe diesen knapp
verloren. Dieses Mal wollen wir ihn gewinnen. Zusätzlich will ich das
bundesweit zweite grüne Direktmandat holen. Natürlich habe ich auch interne
Konkurrenz, wahrscheinlich gibt es noch zwei andere Bewerbungen …
… von denen eine von Hanna Steinmüller kommt, Landesvorstandsmitglied und
ein Vierteljahrhundert jünger als Sie. Da steht dann ein 52-jähriger
Migrant gegen eine junge Frau, womit wir wieder beim Thema Quote wären.
Ich formuliere es mal anders: Da würden sich dann mehrere engagierte Grüne
bewerben – es ist doch toll, wenn die Mitglieder in Berlin-Mitte eine
Auswahl haben. Demokratie lebt vom offenen Wettbewerb, und ich bin froh, in
einer Partei zu sein, in der keine Hinterzimmerdeals, sondern
Basismitglieder entscheiden.
26 Aug 2020
## LINKS
[1] /Hart-aber-fair-und-vonhier/!5576006&s=%C3%B6zcan+mutlu/
[2] /Mehr-Diversity-bei-den-Gruenen/!5693151&s=gr%C3%BCne+vielfalt/
[3] /Frauenquoten-helfen-allen/!5668766&s=gl%C3%A4serne+decke/
## AUTOREN
Stefan Alberti
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Kandidatur
Interview
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Berliner Bezirke
Grüne Berlin
NSU 2.0
Robert Habeck
Schwerpunkt Rassismus
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