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# taz.de -- Nachruf auf David Graeber: Die Welt ganz neu sehen
> Der Anthropologe David Graeber wollte Kapitalismus nicht nur verstehen,
> sondern überwinden. Sein ungewöhnlicher Blick wird fehlen.
Bild: Urheber von dicken Büchern und großen Bewegungen: David Graeber im Apri…
[1][David Graeber] war ein besonderer Wissenschaftler: Der Anthropologe war
Anarchist und wollte Theorie und Praxis verbinden. Er wollte den
Kapitalismus nicht nur verstehen, sondern auch überwinden. Graeber hatte
eine Mission.
Der New Yorker besaß ein untrügliches Gespür für relevante Themen. Er hat
[2][mehrere Mega-Bestseller] geschrieben und war gleichzeitig der wohl
wichtigste Vordenker der Occupy-Bewegung. Der Spruch „Wir sind die 99
Prozent“ stammte von ihm.
Graeber wurde schlagartig weltberühmt, als 2011 sein Wälzer „Schulden. 5000
Jahre“ erschien. Denn Graebers radikale These war, dass Schulden stets mit
Gewalt einhergehen – ja, Gewalt sind. Sie seien eine Waffe, ein Instrument
der Macht, der Unterdrückung.
Für Graeber war daher der Kapitalismus die höchste und die subtilste Form
der Gewalt. Denn der Kapitalismus kann ohne Schulden gar nicht existieren,
er wird durch Kredite angetrieben. Mit Darlehen werden Investitionen
finanziert, die einen Gewinn abwerfen sollen. Aus Geld wird mehr Geld.
Graeber wollte stets „die großen Fragen“ stellen, und sein radikaler Blick
war immer anregend. Trotzdem hatte sein Werk auch Lücken, eben weil er
Anthropologe war. Er teilte die inhärente Annahme seines Faches, dass alle
historischen Kulturäußerungen miteinander vergleichbar seien, da es ja
stets Menschen sind, die handeln. Ob in Mesopotamien, im alten Rom oder im
modernen London – Graeber machte überall die gleichen Gesetze aus.
Für ihn spielte es keine Rolle, ob ein antiker Tempelstaat vor 5.000 Jahren
Zinsen eintrieb – oder eine heutige Bank. Damit aber verkannte er den Kern
des Kapitalismus. Graeber hatte zwar Recht, dass der Zins in der antiken
Welt ein Herrschaftsinstrument war. Denn in Mesopotamien oder in Rom gab es
kein Wachstum.
Zinsen bedeuteten daher immer, dass Vermögen umverteilt wurde. Wer Zinsen
zahlte wurde ärmer; wer sie bekam wurde reicher. Doch dieses Gesetz gilt im
Kapitalismus eben nicht mehr, der den Charakter der Schulden völlig
verändert hat. Indem Kredite Wachstum finanzieren, können die Zinsen
mühelos aus diesen Zusatzerträgen aufgebracht werden.
## Unermüdlicher Geschichtensammler
Wie viele Anthropologen war Graeber Strukturalist: Er war überzeugt, dass
jedes Einzelbeispiel bereits das Ganze beschreibt. Begeistert und
unermüdlich sammelte er Geschichten und Anekdoten. Dies war Stärke und
Schwäche zugleich.
Die theoretischen Erkenntnisse waren eher mager, dafür ist es Graeber
gelungen, das pralle Leben einzufangen und auf neue Themen zu stoßen. Diese
Begabung zeigte sich erneut bei seinem letzten Bestseller über
[3][„Bullshit-Jobs“]. Das Buch beruhte auf Selbstzeugnissen von
Angestellten, die gut bezahlte Stellen haben, aber darunter leiden, dass
ihre Tätigkeiten völlig sinnlos sind.
Graeber hatte die Fähigkeit, die bekannte Welt ganz neu zu sehen. Sein
ungewöhnlicher Blick wird fehlen. Am Donnerstag ist Graeber mit 59 Jahren
in Venedig gestorben.
4 Sep 2020
## LINKS
[1] /David-Graeber-ist-tot/!5712342
[2] /David-Graebers-Buch-Buerokratie/!5280790
[3] /Neues-Buch-von-David-Graeber/!5532911
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
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