# taz.de -- Essayband „Über Könige“: Die Widersacher des Monarchen | |
> Marshall Sahlins und David Graeber untersuchen die Wirkmächtigkeit von | |
> Monarchien. Götter gab es demnach auch in atheistischen Gesellschaften. | |
Bild: Ein frischgebackener König: Charles III | |
Die Ethnologie ist eine hochpolitische Wissenschaft. Nicht allein weil sie | |
in der Vergangenheit staatlichen und imperialen Rassismus legitimierte, | |
sondern auch weil ihre Erkenntnisse Aufschluss über die Ursprünge von | |
Ideen, Praktiken und Institutionen geben, auf denen moderne Staaten | |
gründen. | |
[1][David Graeber, 2020 früh verstorben,] war ein besonders umtriebiger | |
Vertreter seines Fachs. Der bekennende Anarchist und Anführer der Bewegung | |
Occupy Wallstreet avancierte mit internationalen Bestsellern wie „Schulden | |
– Die ersten 5.000 Jahre“ oder „Bullshit-Jobs“ zu einem Stichwortgeber | |
der Linken. | |
Gemeinsam mit seinem einstigen Doktorvater Marshall Sahlins brachte Graeber | |
2017 einen Essayband heraus, der nun stark gekürzt bei Wagenbach auf | |
Deutsch erscheint. „Über Könige“ ist der Versuch einer Archäologie der | |
Souveränität, worunter Graeber die Macht versteht, unter Strafandrohung | |
Befehle zu erteilen. | |
Er lehnt sich eng an [2][Carl Schmitt] an, der lehrte, souverän sei, wer | |
über den Ausnahmezustand entscheide, also das Recht nicht nur setzen, | |
sondern auch außer Kraft setzen könne. Auf Basis einer beeindruckenden | |
Materialfülle versuchen er und Sahlins die Wurzeln dieser Idee aufzudecken | |
und deuten ihre Genese bis zur Volkssouveränität in der Demokratie an. | |
## Imitation göttlicher Hierarchie | |
Sahlins entwickelt zunächst die interessanteste These des Bands: Die | |
gesellschaftliche Hierarchie sei eine Imitation der göttlichen. Damit | |
widerspricht er der seit Durkheim verbreiteten Gewissheit, dass religiöse | |
Ordnungen aus gesellschaftlichen abgeleitet wurden, oder – mit Marx | |
gesprochen –, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. | |
Laut Sahlins war es genau umgekehrt. Selbst in Kulturen, die kein Königtum | |
kannten, wurden die Menschen von Göttern regiert. Sie waren die Herrscher, | |
insofern sie willkürlich über Hunger, Krankheit und Naturkatastrophen | |
entschieden. Wenn sich nun ein Königtum herausbildete, dann indem es die | |
göttliche Ordnung auf Erden verdoppelte. | |
In der Folge beschreibt Graeber das Verhältnis zwischen Volk und König als | |
fortwährenden Krieg. Während der König den kosmischen Vorbildern nacheifert | |
und versucht, seine Macht über das Volk zu vergrößern, wehrt sich dieses, | |
indem es das Oberhaupt mittels Tabus und Riten von der Gesellschaft | |
entfernt und so seinen Einfluss schmälert. | |
In einem solchen Sakralkönigtum mag die Macht theoretisch total sein, sie | |
findet ihre Grenzen aber zum Beispiel darin, dass der König weit von seinen | |
Untertanen separiert wird und sie niemals zu Gesicht bekommen darf. Selbst | |
Königsmorde sind in diesen Systemen üblich, sofern der Monarch seinen | |
Gottstatus nicht mit militärischen Siegen oder reichen Ernten unter Beweis | |
stellen kann. | |
## In Konkurrenz zu toten Vorgängern | |
Ein König muss sich aber nicht nur mit den Lebenden herumschlagen, seine | |
größten Widersacher sind häufig die Toten. In zahlreichen Kulturen werden | |
seine Vorgänger auch nach ihrem Ableben verehrt, sie behalten ihren Besitz | |
und sogar ihren Hofstaat. | |
Das hat zur Folge, dass der aktuelle König neue Gebiete erobern muss, um | |
das eigene Gefolge zu ernähren und Ruhm zu erlangen. Auch Massenmorde an | |
der eigenen Bevölkerung seien durch das Streben motiviert, die Ahnen auf | |
dem Feld der Grausamkeit zu überbieten. | |
Die politische Botschaft für die Gegenwart entfaltet sich eher im | |
Hintergrund der Essays. Die Autoren konstatieren „eine tiefe strukturelle | |
Verwandtschaft zwischen der heutigen Idee, dass alle Bürger ‚vor dem Gesetz | |
gleich‘ sind, und dem monarchischen Prinzip, dass sie gleich sind als | |
potenzielle Opfer rein willkürlicher königlicher Verwüstung“. | |
Daraus lässt sich Folgendes schließen: Wenn sich erstens die Idee der | |
Souveränität aus der Imitation einer kosmischen Ordnung ableitet und sie | |
zweitens in unserer Gegenwart fortwirkt, können sich heutige Hierarchien | |
nicht darauf berufen, rationale oder humane Ideen zu verwirklichen. | |
Freilich erforderte ein derart radikaler Schluss weitere Ausführungen. Man | |
muss ihm jedoch nicht zwangsläufig folgen, um diesen schmalen, doch prall | |
gefüllten Band mit Gewinn zu lesen. | |
1 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Nachruf-auf-David-Graeber/!5712410 | |
[2] /Buch-Intellektuelle-Rechtsextremisten/!5868368 | |
## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
## TAGS | |
Monarchie | |
Queen Elizabeth II. | |
König Charles III. | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Politisches Buch | |
Schwerpunkt Frankreich | |
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