# taz.de -- Europas Versagen: Wofür Moria steht | |
> Läge Moria in Mali und nicht in Griechenland, wäre die EU schon längst | |
> aktiv. In Afrika gibt sich die EU hilfsbereiter als in Europa. | |
Bild: Moria nach dem Brand: Eine NGO verteilt Wasserflaschen, wer Glück hat, b… | |
Wo sind die Flugzeuge? Wo sind die Armeen von Helfern, die mit Gütern des | |
überlebensnotwendigen Bedarfs zu den Notleidenden eilen? Wo sind die | |
UN-Profis mit ihren Zeltstädten und Registrierungssystemen? Wo sind die | |
Evakuierungsflüge? In der Nacht zum Mittwoch brannte auf der griechischen | |
Insel Lesbos das Flüchtlingslager Moria nieder. | |
[1][Fünf Tage später sitzen fast alle seiner Bewohner immer noch auf der | |
Straße]. Für ihr Obdach müssen sie selbst sorgen, Wasser und Brot sind | |
Glückssache. Die lokale Bevölkerung sieht sie als gefährliche Virenträger, | |
die Polizei hält sie mit Tränengas in Schach. | |
„Das ist jenseits von Worten“, berichtete im WDR-Fernsehen am Samstagabend | |
eine erfahrene Reporterin. „Du gehst hier rein, hinter der | |
Polizeikontrolle, du hörst keine Stimmen, und dann liegen die da alle. | |
Nicht Hunderte. Tausende.“ Am Sonntag war nicht einmal das mehr möglich. | |
Die Polizei hatte die Flüchtlinge abgeriegelt – von den Medien und von | |
Hilfsorganisationen. Die Leute kollabieren vor Durst, auf einer Insel mit | |
Tagestemperaturen von über 30 Grad, auf der es seit Mai nicht geregnet hat. | |
„Das ist nicht Europa“, behauptete die Reporterin. Doch. Das ist Europa. | |
Genau das. Menschen verdursten auf der Straße, während europäische | |
Politiker in europäischen Hauptstädten über eine „europäische Lösung“ | |
faseln: 150 hier, 400 da, unbegleitete Minderjährige rausholen, vielleicht | |
noch andere, aber nur vom griechischen Festland und nur wenn mehrere Länder | |
mitmachen. Als Menschen kommen die Flüchtlinge bei diesen Diskussionen | |
nicht vor. Ein totes Wildschwein in Brandenburg bringt die Behörden | |
schneller zum Handeln. | |
12.600 Flüchtlinge lebten zuletzt in Moria. Europa gibt sich von diesen | |
12.600 Menschen überfordert, als seien es 12,6 Millionen. 12.600 – das war | |
die Obergrenze der UN-Blauhelmmission in Mali, als sie 2013 entstand. Mali | |
hatte für sie Platz, Mali rollte ihnen den roten Teppich aus wie zuvor den | |
französischen Soldaten. Bundeswehrsoldaten, die in Mali im EU-Auftrag | |
Ausbildung betreiben, wohnen im Luxushotel und erhalten zugleich | |
Gefahrenzulagen. | |
## Europa in Mali großzügig | |
In Mali gibt sich die EU großzügig, mit 350 Millionen Euro humanitärer | |
Hilfe in den vergangenen acht Jahren. „Wann auch immer ein Konflikt eine | |
Massenvertreibung von Menschen hervorruft, sind EU-finanzierte | |
Hilfsorganisationen in Mali dazu ausgestattet, schnell zu reagieren und | |
verletzliche Menschen mit Notunterkünften, Lebensmittelhilfe, Zugang zu | |
sauberem Wasser und Gesundheitsversorgung, Schutz und dem Nötigsten zum | |
Überleben zu versorgen“, prahlt [2][die Mali-Seite der humanitären | |
EU-Koordinierungsstelle ECHO]. „Bedürftigen wird geholfen, sich im Laufe | |
der Zeit gegen wiederholende Krisen zu wappnen, was sie für die Zukunft | |
weniger verletzlich macht.“ | |
Müsste man die 12.600 Menschen aus Moria also nach Mali schicken, damit die | |
EU ihnen unter die Arme greift? Die Zahlen sprechen für sich. In Mali | |
beantragten im Jahr 2018 [3][nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks | |
UNHCR] 9.918 Menschen Asyl, die meisten aus den Nachbarländern Niger und | |
Burkina Faso, aber auch 330 aus Syrien, 22 aus Bangladesch und 5 aus der | |
Türkei. Die Aufnahmequote, laut UNHCR: 100 Prozent. | |
Umgekehrt suchten demnach 7.265 Malier in anderen Ländern Asyl, die meisten | |
in Frankreich und Italien. Die Aufnahmequoten: Frankreich 18,5 Prozent, | |
Deutschland 3,3 Prozent, Italien 2,9 Prozent; eine Aufnahmequote von 0,0 | |
Prozent verzeichneten Spanien sowie Griechenland, Luxemburg, die | |
Niederlande, Österreich und Portugal, auch manche afrikanische Länder wie | |
Nigeria und Südafrika. In den USA lag die Aufnahmequote für Malier bei 44,4 | |
Prozent, in Kanada bei 58,3 Prozent und damit Weltspitze. | |
## Symbol des Scheiterns | |
Moria ist ein Symbol des Scheiterns der europäischen Flüchtlingspolitik, | |
heißt es oft. Aber dieses Scheitern besteht im Grunde darin, dass diese | |
Menschen überhaupt da sind. Europa betreibt schließlich seit Jahren eine | |
konsequente Flüchtlingsabwehr, mit Nachbarländern wie der Türkei als | |
Türsteher, die man dafür bezahlt, dass niemand mehr herkommt, und mit | |
aktiver Pushback-Politik auf hoher See. In Afrika werden mit | |
EU-Unterstützung Grenzen hochgezogen, Überwachungs- und Kontrollsysteme | |
aufgebaut, Reisefreiheiten gestrichen. Wer doch durchkommt, dem werden die | |
Menschenrechte und die Menschenwürde verweigert. Es ist alles mehr oder | |
weniger rechtswidrig, aber wen in Europa schert schon das Recht, wenn nur | |
Nichteuropäer unter seinem Bruch leiden? | |
Das ständige Beschwören einer „europäischen Lösung“ ist eine Ausrede f�… | |
Nichtstun: Ja, ich würde ja Flüchtlinge aufnehmen, aber nur wenn alle 27 | |
EU-Staaten es machen. Man stelle sich vor, die europäischen Länder würden | |
ihre Coronapolitik dergestalt betreiben: Ja, wir brauchen wohl | |
Kontaktbeschränkungen und Testmöglichkeiten und Hilfe für die Wirtschaft, | |
aber erst wenn alle 27 Mitglieder es gleichzeitig tun? Dann wären schon | |
Millionen Europäer an Covid-19 gestorben und die Wirtschaft befände sich im | |
freien Fall. Aber so funktioniert die europäische Flüchtlingspolitik. | |
Moria steht daher auch für das Scheitern des europäischen Anspruchs auf | |
moralische Führung in der Welt. Wo „europäische Werte“ in der Praxis „W… | |
nur für Europäer“ sind, stehen sie im Widerspruch zu den universellen | |
Werten. Dass in Afrika – und in Asien und im Nahen Osten – Europa als | |
moralische Instanz nicht mehr glaubwürdig ist und nicht mehr angehört wird, | |
hat auch damit zu tun. Afrikaner und Asiaten arbeiten nach Kräften daran, | |
dass sie irgendwann Europa und die Europäer nicht mehr brauchen, weder als | |
Konkurrenten noch als Partner. Nicht durch das Zulassen von Migration, | |
sondern durch seinen Hochmut gegenüber den restlichen 90 Prozent der Welt | |
schafft Europa sich ab. | |
13 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Obdachlose-Fluechtlinge-in-Moria-auf-Lesbos/!5713812 | |
[2] https://ec.europa.eu/echo/where/africa/mali_en | |
[3] https://www.laenderdaten.info/Afrika/Mali/fluechtlinge.php | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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